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Gesellschaft

Ein Baby und die Unvorhersehbarkeit der 20er

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Illustration: Leon Scheich

Die einen heiraten, die anderen gehen auf Sex-Partys und planen eine Weltreise, wieder andere ziehen zurück zu den Eltern. Doch nichts offenbart die Gräben der 20er so sehr wie die Geburt des ersten Babys im Freundeskreis.

von Myriam Neureuther

Es ist Dienstagabend und ich sitze mit meiner alten Schulfreundin in einem Irish Pub in Köln. „Ich war letzte Woche das erste Mal auf einer queeren Kinky-Party!“, sagt sie. „Es war so wild“. Ich höre gespannt zu. Lack, Leder, Darkroom, das volle Programm. „Brüste mit Silikon drin fühlen sich so weird an“, erzählt sie, „hab ich davor noch nie angefasst. Bisschen, wie wenn man auf einen Wasserballon drückt. Irgendwie fest, aber es gibt trotzdem nach.“ Interessant. Sie ist seit zwei Jahren mit ihrer Freundin zusammen und sie überlegen, die Beziehung zu öffnen. Aber erstmal steht eine große, gemeinsame Reise an. Ihr Leben klingt aufregend.

Am nächsten Morgen wache ich mit Kopfschmerzen auf einem Sofa auf und sehe die Nachricht von einem meiner besten Freunde: „Theo ist da! Er wiegt 3120 Gramm, die Geburt lief ohne Komplikationen“. Eine kleine Träne der Rührung rollt über mein Gesicht. Ein Baby! Klar, wir wussten seit 9 Monaten, dass dieser Tag kommen wird, aber trotzdem überrumpelt mich das Foto. Die winzigen Hände, die kleine Nase, die geschlossenen Äuglein. Es ist das perfekteste Baby der Welt. Klar ist jedes Baby ein Wunder bla, bla. Aber das ist das erste Baby, das in unseren Freundeskreis kommt und damit ist es ja wohl ein bisschen auch unser Baby. Es wird auf unseren Schultern sitzen, wenn wir auf dem Mainzer Open-Ohr tanzen und auf dem Teppich in der WG spielen, während wir ironisch Twilight schauen.

Mein Blick wandert zu dem 26-jährigen Teenager auf dem Foto, der das kleine Wesen hält. Ist dieses Kind wirklich bereit, selbst ein Kind zu versorgen? Das selig schlummernde Baby ahnt nicht, dass die beiden Chaoten, die ab jetzt für sein Wohlergehen zuständig sind, letztes Jahr in einem abgelegenen Wald in Finnland fast gestorben wären, weil sie dachten, sie könnten giftige von ungiftigen Pilzen unterscheiden. Ganz zu schweigen von den halluzinogenen Pilzen, die sein Vater bei anderer Gelegenheit ganz bewusst genommen hat. Aber woher soll das Baby das auch wissen, es kennt die beiden ja erst seit ein paar Stunden.

Und trotzdem: Mein bester Freund und seine Freundin haben mit diesem Baby eine neue Stufe des Erwachsen-Werdens erreicht. Level Unlocked. Ich denke an meine alte Schulfreundin. Spielen wir überhaupt alle das gleiche Spiel? Wie weit können zwei Leben auseinanderliegen, obwohl wir alle gleich alt sind? Als ich 13 war, dachte ich, mit 26 hat man das Leben verstanden, hat einen stabilen Job und ist bereit, Kinder zu bekommen. So viel zu den Illusionen der Jugend. Ab wann ist man erwachsen genug für ein Baby? Aktuell habe ich noch regelmäßig das Bedürfnis, einen richtigen Erwachsenen zu konsultieren, wenn es um mittelgroße Entscheidungen wie die Anschaffung eines neuen Rucksacks geht. Hinter meinem Freund und seinem Baby sehe ich die Unvorhersehbarkeit des Lebens auf mich zurollen und frage mich, wie schon alle Menschen vor mir: Was ist das Ziel? Mann, Haus, Kind? Muss ich dann auch langsam mit dem Kinder-Part beginnen? Selbst wenn, muss das Mantra bei den wirtschaftlichen Verhältnissen ohnehin zu „Mann, vielleicht eine kleine Wohnung, Kind“ angepasst werden. Dazu Klimawandel, globale Krisen und steigender Extremismus, mit denen das Kind sich herumschlagen müsste. Andererseits, irgendwer muss ja für unsere Rente aufkommen. Oder ist jetzt der Moment, um auszuwandern, ein Café in Frankreich zu eröffnen, auch mal auf eine Kinky-Party zu gehen? Ich will Abenteuer und Unbeschwertheit wie meine alte Schulfreundin. Aber auch Sicherheit und Stabilität – und wenn ich den Sprössling von meinem besten Freund sehe, besteht meine Gebärmutter darauf, auch ein Baby in die Liste aufzunehmen.

Zuhause in Mainz schalte ich den Fernseher ein. Meine Ex-Freundin macht gerade bei einer queeren Dating-Show mit. Ich sehe, wie sie im Fernsehen weint und knutscht und mit Ende 20 offenbar entschieden hat, eine Influencer-Karriere zu starten. Wer hätte das gedacht. Wenn das mit uns damals was geworden wäre, wäre ich jetzt auch Influencerin? Ich muss noch packen, morgen fahre ich auf die Hochzeit meiner Cousine. Mein Handy vibriert. Ein Freund fragt, ob wir heute Abend noch was machen wollen. „Aber lass lieber nicht bei mir treffen“, schreibt er, „meine Eltern haben heute Besuch. Weißt ja, ich bin wieder bei denen eingezogen …“.

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