Im Rabbithole der Matrix
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Illustration: Nikolas Hönig
Im Internet wird unsere Lebensrealität immer häufiger als „die Matrix“ bezeichnet, um sie als Simulation zu enttarnen. Ein neuer Trend aus der Verschwörungsecke? Falsch. Die Idee der Matrix reicht auf eine uralte Denktradition zurück und kann bis zur Antike zurückverfolgt werden.
von Hannah Maertin
Stellt euch vor, ihr werdet in einer Höhle unter der Erde gefangen gehalten. Ihr seid mit dem Rücken an einer niedrigen Wand fixiert, hinter der ein Feuer brennt. Sich umzudrehen ist nicht möglich, ihr könnt nur nach vorne schauen. Euer Blick ist auf die gegenüberliegende Wand der Höhle gerichtet: die Fläche, auf die der Lichtschein des Feuers fällt. Dort findet ein Schattenspiel statt, denn hinter euch werden verschiedene Gegenstände vorbeigetragen, die ihre Schatten auf die Wand in eurem Blickfeld werfen. Stellt euch vor, ihr seid seit eurer Geburt in dieser Höhle. Die Schatten wären eure Realität und die wahren Gegenstände jenseits eurer Vorstellungskraft; von der Welt außerhalb der Höhle ganz zu schweigen.
Das ist das Höhlengleichnis und es dient als Erklärungsmodell für die erkenntnistheoretische Überzeugung Platons. Der Grundgedanke: Der Mensch, der nicht philosophiert und sich nur auf seine Sinneseindrücke verlässt, lebt in einer Welt der Abbilder. Die wahre Essenz des Seins, aus der sich alles zusammensetzt, sei nur mit dem Geist zu erkennen: das Reich der Ideen, die unveränderlich, unvergänglich und damit göttlich sind. Zu philosophieren und die Realität zu hinterfragen, entspricht einer Befreiung aus der Höhle und der Hinwendung zur Wahrheit.
Den Löffel gibt es nicht
Schon das Untergrundszenario Platons wirkt bedrückend. Es zeigt die Menschen als gefangene, im Dunkeln lebende Wesen, die den Schatten verfallen sind, unfähig, sich dieser Scheinwelt zu entziehen. Der Science-Fiction-Klassiker „The Matrix“ von den Wachowski Gewschwistern steigert diesen Alptraum ins Dystopische. Der Plot: Die Welt ist zerstört. Maschinen herrschen und beuten die Menschen als Energielieferanten aus. In Kapseln angezüchtet, wird ihre biochemische Energie abgezapft, während sie durch eine computergenerierte Simulation glauben gemacht werden, dass sie nach wie vor in der zivilisierten, alltäglichen Welt leben, wie wir sie kennen. Allein eine rebellische Untergrundbewegung kennt die Wahrheit und bewegt sich in der echten, zerstörten Welt, wo sie gegen die Maschinen kämpft. Ihr Ziel: die Menschheit befreien. Eine interessante Grundfrage der Filmreihe: Die Matrix ist zwar eine Lüge, doch ist sie schöner und angenehmer als ein Leben in der realen Welt, in der es nicht einmal mehr Sonnenlicht gibt. Süßer Traum oder bittere Realität – wofür würdest du dich entscheiden?
Die rote und die blaue Pille
Auch heute hat das Konzept der Matrix keine positive Konnotation. Anstelle der Realität wird im aktuellen Kontext Gesellschaftliches als vermeintliche Simulation entlarvt: Das System aus Wirtschaft, Politik und Medien sei ein von Machteliten gesteuertes Konstrukt, das die Menschen kleinhält und für die eigenen Zwecke missbraucht. Was von der Öffentlichkeit für wahr, gut und richtig gehalten wird, sei nicht wirklich so, sondern lediglich Manipulation. Wer ein braver Bürger ist und diese Werte vorbehaltlos akzeptiert, sei der „Blue Pill“ zum Opfer gefallen: Wie auch im Film lebt man friedlich und unkritisch vor sich hin, ohne zu verstehen, dass man sich kontrollieren und ausnutzen lässt. Die hingegen, die das System durchschauen und die wahre, perfide Agenda hinter diesem Programm erkannt haben, seien Anhänger der „Red Pill“. Sie haben sich für die Anerkennung der unangenehmen Wahrheiten entschieden und vertreten eigene Werte.
Ewiger Skeptizismus
Wie die Referenzen auf das Ideengut des Films zu bewerten sind, bleibt fraglich. Von vielen Seiten werden den „Matrix“-Anhängern Frauenfeindlichkeit und Reduktionismus vorgeworfen. Doch kann man auch nicht leugnen, dass Anreize zum Hinterfragen vorgegebener Strukturen wertvoll sein können.
Darüber hinaus ist es viel interessanter, über die Bedeutung des Diskurses nachzudenken. Zeigt sich nicht im Wiederaufflammen der Thematik, dass die westliche Welt schon seit Jahrtausenden von ein und derselben Idee heimgesucht wird? Dass es ihr nicht gelingt, den Gedanken loszuwerden, dass wir von alldem getäuscht werden, was uns am meisten vertraut zu sein scheint?
Selbst die Aufklärung, die modernen Wissenschaften und der neuzeitliche Rationalismus konnten uns nicht vom Skeptizismus heilen. Doch sollten sie das? Immerhin sind sie selbst aus den Zweifeln großer Denker entstanden …