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Warum ich neuerdings unbedingt falsche Fingernägel haben will und sie mir doch nicht machen lassen werde … wahrscheinlich.

von Isabel Page

Seit kurzem will ich unbedingt falsche Nägel haben und das obwohl sie mir nie gefielen, ich sie eher belächelte. Doch die kleinen Klack-Geräusche harter Gelnägel auf Handybildschirmen, die ewig lang erscheinenden Finger, sie haben mich verhext. Ein Teil von mir sehnt sich nach der Femininität, dem Sex-Appeal, die ich damit verbinde, er flüstert: gönn dir ein bisschen Self-Care. Mein Kopf protestiert. Was will ich da eigentlich und wieso?

In den letzten Jahren schießen Nagelstudios wie Pilze aus dem Boden, ein wahres Fake-Nail-Revival findet statt. Was in den 2000er Jahren die bunten, mit Nagelpiercings und Glitzersteinen verzierten, eckig gefeilten Plastiknägel waren, sind jetzt schlichtere, leicht spitz zulaufende Shellack-Nägel.

Verlängerte und dekorierte Nägel aus Elfenbein, Gold oder Knochen waren bereits im antiken China und Ägypten bei der Aristokratie beliebt. Nägel von 30 Zentimetern Länge schreien nicht gerade „Arbeit“. Erst ab dem 18. Jahrhundert etablierte sich die Maniküre im französischen Bürgertum, wie so oft, schwappte sie von dort nach Amerika rüber. Typisch amerikanisch, investierte das Unternehmen Cutex ab den 1920er Jahren Unsummen in Werbekampagnen, die Frauen überzeugen sollten, dass Nagelhaut und unlackierte Nägel ein Zeichen mangelnder Hygiene, Professionalität und Weiblichkeit seien und Nagelpflegeprodukte wurden allmählich zur Massenware.

Ein altbekanntes Muster. Man(n) erfindet Problem am weiblichen Körper und bietet dankenswerterweise gleich die Lösung an. Wir cremen, rasieren und schminken, stets einen Schritt hinter dem aktuellen Ideal. Ausschließlich für unser eigenes Wohlbefinden versteht sich. Nie um die Anerkennung derer zu gewinnen, die sich die Taschen damit füllen, uns unsere Mangelhaftigkeit erst einzureden.

Allerdings würde ich lügen, wenn ich behauptete, dass ich die Möglichkeiten zum Selbstausdruck, die uns Nagellack und Co. bieten, nicht nutze. Es kann so viel Spaß machen. Schwierig wird es für mich, wenn aus einem Kann ein explizites oder implizites Muss wird.

Wenn andere unter meinem Identitätsausdruck leiden: Es ist ein offenes Geheimnis, dass in der Nagelindustrie viele Menschen mit asiatischem Migrationshintergrund arbeiten. Was kein Problem wäre, wären da nicht die Zoll- und Polizeiberichte, die dokumentieren, dass in Studios immer wieder Menschen ohne Staatsbürgerschaft und ohne Aufenthaltstitel beschäftigt sind. Wen es offiziell nicht gibt, für den gibt es wohl kaum Arbeitsverträge, Sozialleistungen oder Mindestlöhne. Es ist verlockend leicht Menschen auszubeuten, die weder Deutsch sprechen, noch sich rechtlich wehren können. Auch nicht gegen die möglichen Gesundheitsschäden wie Lungenfibrose, Hautkrebs an den Händen und gefährliche allergische Reaktionen auf Acryl, Kleber und Plastik.

Nageldesign und prekäre Arbeitsbedingungen sind auch keineswegs eine kulturelle Affinität. Die Story geht vielmehr so: Durch den Vietnamkrieg zur Flucht gezwungen brauchten in den USA und anderswo lebende Vietnamesinnen schnell Arbeit, die kein großes Startkapital und wenig Sprachkenntnisse erforderte. So wurde der Legende nach eine Gruppe von 20 Frauen im Schnellverfahren zu Nageldesignerinnen ausgebildet. Unter anderem durch niedrige Preise fassten sie in der Branche schnell Fuß und bildeten den Grundstein für eine in vielen Teilen der Welt verbreitete Nagelbranche.
Wenn ich mich frage, wo meine Lust auf lange Blümchennägel herkommt, muss ich mir geschlagen eingestehen: ich wurde geinfluenced. Sie sind auf Instagram und Pinterest sowie an immer mehr Händen in meinem Umfeld zu sehen.

Dabei teilte ich bis kürzlich noch die dominierende Meinung der 2000er: lange, glitzernde Fingernägel sind billig, asozial. Dies schien vor allem zu gelten, als überwiegend Schwarze Frauen, vor allem aus der Hip-Hop-Kultur, wie Missy Elliott oder Lil‘ Kim Fake Nails trugen. Seit alle vom Kardashian-Klan bis zu Kate Middleton Gelnägel tragen, stehen sie für „quiet luxury“. Sie sagen: „Sieh her, ich habe mein Leben unter Kontrolle!“ Plötzlich finde ich sie cool. Ich wünschte es wäre Zufall, aber auch hier muss ich mir eingestehen, dass es sicherlich keiner ist.
Werde ich mir also den nächsten Nageltrend gönnen? Wahrscheinlich nicht. Würde ich ablehnen, wenn mir jemand einen Gutschein dafür schenken würde? Wahrscheinlich nicht. Bis ich eine Entscheidung getroffen habe, sind sie vermutlich sowieso schon wieder uncool.

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