Kein Ende des Erinnerns
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Alle Verfolgten der NS-Zeit sollten eine Stimme haben – die Realität sieht jedoch anders aus. Ein Gespräch mit Joachim Schulte vom Verein QueerNet Rheinland-Pfalz e.V. über die Gefahr einer lückenhaften Gedenk- und Erinnerungskultur.
von Konstantin Mahlow
Es ist kaum zu glauben und noch schwieriger zu verstehen: Verfolgten-Organisationen scheinen in der rheinland-pfälzischen Gedenk- und Erinnerungskultur keinen Platz zu haben. Die Kontinuität der Verfolgung von der Zeit der NS-Diktatur bis in die Bundesrepublik wird wie schon in den 1980er Jahren verschwiegen und ihre Vertretungen von einer gleichberechtigten Beteiligung ausgeschlossen. Zwar wird regelmäßig auf ihre Geschichte im Dritten Reich hingewiesen, eine strukturelle Teilhabe an einer offiziellen Erinnerungskultur gibt es trotz akutem Bedarf jedoch nicht – auch nicht in Mainz. Warum dieser Trend für uns alle gefährlich ist, erklärt Joachim Schulte im Gespräch mit STUZ.
STUZ: Herr Schulte, welche Defizite existieren in der gegenwärtigen Gedenk- und Erinnerungskultur?
Schulte: Wir beobachten eine Entwicklung, die uns große Sorgen macht: Vertretungen von nicht-jüdischen Verfolgtengruppen, aber auch jüdische Vertretungen sind in allen offiziellen Gedenkorten und Vereinen ausgeschlossen. Es gibt zwar hier und da Veranstaltungen, aber keine strukturelle Beteiligung. Im „Haus des Erinnerns“ etwa, das immerhin schon vor fünf Jahren eröffnet wurde, sollen laut der Satzung eigentlich mehrere Opfergruppen im Entscheidungsgremium sitzen – das ist bis auf die jüdische Gemeinde bis heute nicht der Fall. Die Landesarbeitsgemeinschaft „Erinnern und Gedenken in Rheinland-Pfalz“ hat die Gruppen mit einem von der großen Mehrheit der Mitglieder unterstützten Beschluss sogar komplett ausgeschlossen. Und in der KZ-Gedenkstätte Osthofen wurden die Vertreter der Verfolgten schon 2022 durch Fachwissenschaftler:innen ersetzt. Es darf aber nicht sein, dass die Stimme der Verfolgtengruppen einfach ausfällt. Ihre Erfahrungswerte sind nicht zu ersetzen.
STUZ: Auf der Homepage von QueerNet ist von einer Wiederholung der 80er Jahre die Rede …
Schulte: Auch damals wurden Verfolgtengruppen nicht gehört. Erst in den 90ern ist ein Bewusstsein für ihre Schicksale aufgekommen. Der aus der NS-Zeit stammende Paragraph 175, der homosexuelle Handlungen unter Strafe stellt, existierte bis 1994. Die Verfolgung homosexueller Menschen zwischen 1933 und 1945 wurde überhaupt zum ersten Mal im Jahr 2000 anerkannt, jene in der BRD erst 2017. Es dauert bis heute an, die ganze Breite der Verfolgung durch die Nationalsozialisten sichtbar zu machen.
STUZ: Wieso werden Verfolgtengruppen heute wieder ausgeschlossen?
Schulte: Ein Hinweis liegt sicher in der Biographie der Entscheidungsträger:innen. Viele sind aufgewachsen mit der Erschütterung durch die Verfolgung der Juden und Jüdinnen, dem Holocaust. Andere Gruppen wie Sinti und Roma, queere Gruppen, die Euthanasie-Verfolgten und Ermordeten konnten erst viel später auf sich aufmerksam machen. Viele Entscheidungsträger:innen haben diesen Erkenntnisschritt nicht wirklich mitgemacht und sehen nach wie vor eine Hierarchie der Verfolgung. Ein oft gehörtes Argument ist es, dass die letzten Zeitzeugen sterben und wir eine neue Erinnerungskultur brauchen. Dieses Narrativ wird bedient, um sich der Perspektive der Verfolgten-Organisationen zu entledigen. Dadurch wird aber die Kontinuität der Verfolgung verdeckt, die vor der NS-Zeit begann und danach nicht aufhörte. Die Zeitzeugen dieser Entwicklung sind sehr lebendig!
STUZ: Wieso ist eine Anerkennung aller Verfolgten so wichtig?
Schulte: Das Herrschaftssystem einer Diktatur besteht unter anderem darin, dass immer neue Gruppen dem Terror unterworfen werden, weil sie angeblich nicht zur Volksgemeinschaft gehören. Niemand weiß, wen es als nächstes erwischt. Die Nazis haben die Gesellschaft wie eine Salami Scheibe für Scheibe auseinandergenommen, angefangen bei politischen Gegnern, dann die jüdische Gemeinschaft und schließlich Homosexuelle, Roma und Sinti. Um sich dessen bewusst zu werden und so etwas in Zukunft zu verhindern, ist es immens wichtig, dass alle Gruppen an der Erinnerungskultur beteiligt werden. Gedenkstätten wie Osthofen sind auch politische Bildungsorte, die das berücksichtigen müssen. Aktuell hetzen die AfD und die neue Rechte gegen Menschen mit Migrationshintergrund, von „Remigration“ ist die Rede – aber auch sie werden sich nicht nur an dieser Gruppe abarbeiten, wenn sie die Möglichkeit dazu bekommen.
STUZ: Was muss sich also ändern?
Schulte: Wir wertschätzen die Arbeit der Gedenk- und Erinnerungskultur sowie den hohen Einsatz und das Engagement vieler Ehrenamtlicher, weisen aber auf einen Missstand hin und fordern: Verfolgtengruppen müssen in allen Entscheidungsgremien der Gedenk- und Erinnerungskultur mit Stimmrecht vertreten sein.
Am 8.Februar um 19:00 Uhr findet in der Mainzer Synagoge eine Podiumsdiskussion zu dem Thema statt – Anmeldung über ZukunftErinnerung@queernet-rlp.de