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Kultur

Schmökern pusht die Resilienz

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Widmen wir uns fiktiven Geschichten, dann nicht um unsere Persönlichkeit zu optimieren. Im Gegenteil: Wir wollen abschalten, entspannen, uns mitreißen und inspirieren lassen. Tja, war wohl nix, sagt die Forschung. Lesen wirkt sich positiv auf unser Einfühlungsvermögen und unsere Resilienz aus.

von Hannah Maertin

Resilienz, das ist der psychisch-seelische Stoffwechsel eines Menschen. Ist er stark ausgeprägt, gelingt es uns, unsere seelische Balance in schwierigen Situationen und Lebenslagen aufrechtzuerhalten oder rasch wiederherzustellen. Die Resilienzforschung hat unter anderem in Mainz eine ihrer Hochburgen. Sie nimmt seit einigen Jahren die Auswirkungen des Lesens in den Blick und überprüft, ob das Lesen fiktionaler Literatur, die auch Dramen und Poesie umfasst, zu einer Stärkung der Resilienz beitragen kann. Schmökern kann also nicht nur ein Genusserlebnis, sondern auch unbewusstes Soft-Skill-Training sein?

Bücher: Der Pfad zu dir selbst
Man vertieft sich in eine Geschichte, in die Gedankenwelt der Autor:innen, lernt interessante Charaktere kennen, erforscht neue Welten, begibt sich auf spannende Abenteuer oder auf die Spur obskurer Kriminalfälle und blendet dabei das Raum-Zeit-Kontinuum vollständig aus. Das scheint auf den ersten Blick genau das Gegenteil von Erfahrung zu sein. Trotzdem sollen wir dabei etwas absolut „Handfestes“ fürs Leben lernen. Und zwar, indem wir erst einmal etwas über uns selbst lernen, meint der amerikanische Literaturwissenschaftler Harold Bloom. Er bezeichnet das Lesen als „eine der schönsten und heilsamsten Freuden, die uns das Alleinsein bescheren kann“. Es helfe uns dabei, zu uns selbst zu finden, und zwar bereits dadurch, dass man sich bestimmte Werke und Autor:innen aussucht und andere nicht. Niemand wird ein Buch lesen wollen, das nicht stimulierend wirkt; man muss etwas finden, mit dem man in Resonanz geht. Durch diesen Selektionsprozess kommt man also zwangsläufig seinen eigenen „authentischen Interessen“ auf die Spur, erklärt der Literaturwissenschaftler weiter. Wow! Der Lesestoff, den wir uns aussuchen, kann also als Pfad zu unserem Selbst fungieren und uns enger mit dem in Kontakt bringen, was uns ausmacht? In Hinblick auf eine gelungene Lebensbewältigung und eine stabile Resilienz ist das sicherlich ein Pluspunkt.

Ironischer Humor als Bewältigungsstrategie
Geistiges Wachstumspotenzial entsteht auch dadurch, dass man beim Lesen indirekt „mit dem Geist der Autor:innen interagiert“. Bloom nennt unter anderem Shakespeare und Thomas Mann als Beispiele. Ihre sprachgewaltigen Werke zu verstehen, erfordert Ironie zu erkennen und jene Sinnzusammenhänge zu erfassen, die in der Metaebene des Textes mitschwingen. Beim Dekodieren dieser Mehrfachbotschaften trainieren wir unsere Sensibilität für Bedeutungen und unser Vermögen, komplexe Sinnzusammenhänge zu erfassen. Und zwar nicht nur in Bezug auf Geschichten, sondern auch in Bezug auf die Realität. Lesen und verstehen wir Mann und Shakespeare, werden wir also auch für die ironisch-humoristischen Effekte sensibilisiert, die uns das echte Leben serviert. Und da Humor die wohl mächtigste Waffe im Kampf gegen Frustration und Welt-Verdrossenheit ist, dürfen wir den Mann-Shakespeare-Effekt auch auf die Liste der resilienzsteigernden Punkte setzen. Boom!

Je komplexer die Literatur, desto besser!
Da Resilienz ein ganzes Spektrum an Fähigkeiten und Ressourcen umfasst, ist es eine große Herausforderung für die Wissenschaft, sie empirisch zu erforschen. Die Psychologen David Kidd und Emanuele Castano konzentrierten sich daher auf den Zusammenhang von Lesen und unserer Fähigkeit, andere zu verstehen („Theory of Mind“). Sie überprüften die Hypothese, ob das Lesen literarisch hochwertiger Fiktion einen positiveren Effekt auf unser Einfühlungsvermögen hat als das Lesen von belletristischer Genre-Literatur. Und tatsächlich: Die Ergebnisse ihrer Studien konnten ihre Annahme bestätigen. Als Ursache vermutete man, dass literarisch hochwertige Fiktion nicht mit Stereotypen, sondern mit komplexeren Strukturen arbeiten, die den Blick für die Komplexität des Lebens sensibilisieren, Vorurteile aushebeln und die Lesenden dazu auffordern, andere Perspektiven einzunehmen. Alle diese Punkte sind für eine resiliente Lebensführung relevant. Denn sie wirken sich positiv auf unsere mentale Flexibilität aus und tragen dazu bei, dass wir uns selbst und unserem Umfeld mit Verständnis begegnen, anstatt die Welt auf stereotype Kategorien zu reduzieren.

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