Kopfkino mit Mienenspiel
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Wer die Augen schließt, findet sich auf einer abenteuerlichen Reise durch die Antarktis oder durch die Zeit wieder. Wer die Augen öffnet, erlebt eine besondere Kunstform auf der Bühne. Die Live-Hörspiele der Mainzer Gruppe Mienenspiel finden großen Anklang.
von Myriam Neureuther
Der Wind rauscht. Unheilvolles Wispern liegt in der Luft, jeder Schritt knarzt im Schnee. Eine bibbernde, immer verzweifelter werdende Stimme durchdringt die Nacht. „Rodney? Sind Sie das? Alles dunkel, tot hier. Selbst das Licht. Ich sehe sie schon. Tote Augen, starrer Blick. Was wollt ihr von mir?“ Dieser kurze Eindruck stammt aus dem Stück „Durch Nacht und Wind“ der Mainzer Gruppe Mienenspiel – eine Geschichte, die sich nur in den Köpfen der Zuhörenden abspielt.
Der Name „Mienenspiel“ ist eines der wenigen Relikte, das aus den Anfängen der Mainzer Hochschulgruppe 2013 als gewöhnliches Theater-Ensemble erhalten geblieben ist. Seit sie 2016 ihr erstes Live-Hörspiel aufgeführt haben, spielen die Mienen der Darstellenden nur noch eine Nebenrolle. Sie stehen an den Mikrofonen und spielen die gesamte Geschichte nur mit ihren Stimmen, die eigentliche Bühne ist die Fantasie des Publikums. Die Sprecher:innen legen alle Emotionen in das Gesprochene, Geflüsterte und Geschriene; und werden so zu einem Piloten auf gefährlicher Rettungsmission im antarktischen Winter, zu einer jungen forensischen Archäologin auf der Suche nach der düsteren Wahrheit über das Schicksal vier verstorbener Bergmänner, oder zu einem verwundeten Soldaten in einem Lazarettzug während des Zweiten Weltkrieges. Die Gruppe bringt eine besondere Kunstform auf die Bühne und erschafft Welten in den Ohren und Köpfen des Publikums, die innerhalb der Grenzen eines klassischen Theaters unmöglich wären.
Für den Aufbau dieser Welten ist auch Simone Nowicki entscheidend. Sie ist die „Geräuschemacherin“, auch Foley Artist genannt. Bei den Auftritten sitzt sie inmitten unzähliger Gegenstände und erzeugt kunstvoll all die Einzelgeräusche, die im Alltag selbstverständlich sind und die Geschichten besonders real machen. In den Händen von Simone wird ein brechender Fenchel zu einem zerberstenden Knochen, zwischen den Fingern geriebene Maisstärke wird zu Fußstapfen im Schnee, ein Flipflop in einer Schale Wasser wird zu einem über den Fluss gleitenden Ruderboot. Die live erzeugten Einzelgeräusche werden unterstützt von atmosphärischen Einspielungen sowie von Streicher- und Klaviermusik, die ebenfalls live gespielt und eigens für die Hörspiele komponiert wird.
Nicht nur die Musik ist selbst komponiert, auch die Stücke sind selbst geschrieben. Die kreativen Köpfe hinter den Geschichten sind Philipp Neuweiler und Andreas Reinhart, die beide von der Johannes Gutenberg-Universität Mainz kommen und als Filmemacher und Autoren arbeiten. Philipp schreibt seit 2016 Live-Hörspiele für die von ihm mitbegründete Gruppe Mienenspiel, Andreas feierte sein Autoren- und Regiedebüt 2021 mit dem Stück „Der Totenschacht“. Beide stehen regelmäßig auch als Sprecher an den Mikrofonen.
Begonnen im Hörsaal P1 der Uni Mainz wächst der Bekanntheitsgrad der Gruppe in der Stadt und darüber hinaus. Sie haben ihre Stücke in Event-Locations wie dem KUZ und in den Mainzer KulturGärten gespielt und haben eine Studioproduktion aufgenommen, die eine Premiere als erster Audio-Blockbuster im Mainzer Programmkino Capitol feierte. Das Stück „Der Totenschacht“, das in einem Kupferbergwerk spielt, wurde dieses Jahr in einem echten historischen Kupferbergwerk in Fischbach bei Idar- Oberstein aufgeführt. Aber auch überregionale Erfolge sind zu verbuchen. Das von Philipp Neuweiler geschriebene Hörspiel „Orson Welles und der Krieg der Welten“ wurde 2018 in Koproduktion mit der Berliner Gruppe „Lauscherlounge“ in Berlin und Hildesheim auf die Bühne gebracht. Hier konnten sie mit renommierten Synchronsprecher:innen wie Oliver Rohrbeck und Detlef Bierstedt zusammenarbeiten, deren Stimmen als Justus Jonas aus „Die drei ???“ und als deutsche Stimme von George Clooney bekannt sind. Das Stück wurde vom monatlichen Hörspielpodcast OhrCast zu den besten Hörspielen 2018 gezählt.
Vom Hörsaal der Uni nach Berlin mit George Clooney – die Hochschulgruppe hat bereits eine beeindruckende Reise hinter sich und wird auch in ihren neuen Projekten zu spannenden Reisen in andere Welten einladen.
Illustration: Leon Scheich