Für anderthalb Backfisch-Brötchen nach Sylt
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Wie man nach Sylt reist, sagt viel aus. Man kann von Hamburg nach Sylt fliegen, mit dem Bugatti rund um Westerland brettern oder mit dem 9-Euro-Ticket beispielsweise von Mainz auf die Insel der Reichen und Schönen tingeln. Unser Autor hat Letzteres getan. Gelohnt hat es sich für ihn allemal.
von Tom Albiez
Zugegebenermaßen: 14 Stunden Fahrt und sechsmal umsteigen mitten im Sommer wirken nicht ganz so verlockend. Zumal sich angesichts des 9-Euro-Tickets Bilder von verstopften Zügen mit ausgefallener Klimaanlage in meinem Kopf breitmachen.
Um 5:47 Uhr geht es am Mainzer Hauptbahnhof los. Was soll man auf einer 14-Stunden- Fahrt eigentlich die ganze Zeit machen? Mit Gesellschaftsspielen kann man sich selbstverständlich etwas Zeit vertreiben, allerdings zeigt sich, dass lange Reisen im Grunde genommen nichts anderes sind als das Zimmeraufräumen beim Lernen: Man findet plötzlich vieles interessant, was man sonst unbeachtet lässt. Ich entdecke zum Beispiel, dass man am besten nur mit Minikoffern reisen sollte, um die unter der Zugdecke befindliche Steilablage nutzen zu können. Und dass ich unbedingt zu Spotify Premium wechseln sollte, da der nach wenigen Klicks ausgegraute Skip-Button eine unerträgliche Zumutung ist. Genauso wie das Wetter, das Google auf Sylt verspricht: Regen, bewölkt, windig. Aber warum soll auch immer alles perfekt sein? Man hat ja schließlich Urlaub.
Fast pünktlich bei der „Dicken Wilhemine“
Über die Bahn wird ja viel geschimpft. Ob Zugausfall, Verspätungen oder überfüllte Wagons. Bürger und Bürgerinnen zeigen wohl bei kaum einem Thema so viel Einigkeit wie bei der Meinung zur Deutschen Bahn. Aber wenn man nach einer so vielschichtigen Reise mit nur einer Stunde Verspätung abends um halb neun am Bahnhof in Westerland ankommt, muss man sagen: Diese Verspätung hätte man an einem schlechten Tag auch auf der Fahrt von Bingen nach Mainz haben können. Unsere Ferienwohnung liegt wenige Meter entfernt von der „Dicken Wilhemine“, einer Skulptur, die sich entspannt in einem Brunnen die Füße wäscht, und deren punkige Badegäste seit Anfang Juni 2022 zu TV-Stars wurden. Mittlerweile sind die die alternativen Lebensgestalter:innen 200 Meter weiter in ein Camp ans Rathaus gezogen. Angemeldet als „Protestcamp“ hat man es geschickt geschafft, einer Räumung wegen Wildcamperei zu entgehen.
Aber was macht man nun auf Sylt? Eine Option wäre es natürlich, auf die Nachbarinsel Föhr fahren, denn dort kostet die Eiskugel noch 50 Cent und auch sonst ist alles günstiger. Zudem muss man sich hier kein Ralph Lauren-Polohemd überziehen, um das Gefühl zu vermeiden, gesellschaftlich völlig abgehängt zu sein.
Die nördlichste Fischbude Deutschlands
Ein guter Anknüpfungspunkt für ein touristisches Sightseeing ist der Roman „Faserland“ von Christian Kracht. In der Schullektüre reist ein junger Mann, der sich keine Sorgen um Geld machen muss, allerdings den Sinn seines Lebens noch nicht gefunden zu haben scheint, quer durch die Republik. Seine Tour beginnt auf Sylt. Um genau zu sein: an der nördlichsten Fischbude Deutschlands im Örtchen List. Dort, wo das Gosch-Imperium, also eine der größten Fischbudenketten Deutschlands, seinen Ursprung hat. Klar kann es auf den ersten Blick etwas deprimierend sein, dass man vor Ort für den Wert eines 9-Euro-Tickets gerade mal anderthalb Backfisch-Brötchen erhält. Aber sehenswert ist der nördlichste Zipfel von Sylt zweifelsohne, zumal man von hier aus zur dänischen Insel Rømø rüber schippern kann.
Wein und Strand: Alles eine Frage des Wetters Wofür ist Sylt noch ideal? Natürlich zum Schwimmen, sofern das Wetter mitspielt. Das tut es dann zum Glück auch am letzten Tag. Der Strand wirkt wie glattgezogen, fast schon zu perfekt. Fast könnte man meinen, er – oder gar die ganze Insel – seien künstlich mit Sand aufgeschüttet worden, wie man das eben so macht, wenn man in reicheren Gefilden noch etwas Geld übrig hat.
Als waschechter „Rhoihesse“ dürfte man auf Sylt vor allem die Weinfeste vermissen. Aber selbst auf der nordfriesischen Insel gibt es mittlerweile Winzer:innen. Den Rheinland-Pfälzern sei Dank, denn das Land hat 2009 Pflanzrechte für den Anbau von Reben an Schleswig-Holstein übertragen. Dabei ging auch ein Hektar an Sylt. So kommt es, dass das Weingut Balthasar Ress aus dem Rheingau vor Ort eine Außenstelle betreibt. Ob die Weine so gut schmecken wie hierzulande, gilt es auf jeden Fall beim nächsten Sylt-Trip zu erkunden.
Foto: Tom Albiez