Ein Zuhause im bunten Mainz

Seit mehr als 20 Jahren stärkt die „Bar jeder Sicht“ die Wahrnehmung, den Austausch und die Kultur der queeren Community. Die Vorstandsmitglieder Mareike Hopf und Diana Gläßer berichten, warum sichere Räume auch heute noch unverzichtbar sind und wie ihre Arbeit Brücken zwischen Menschen baut.
Von Ulrich Nilles
Frau Hopf, Frau Gläßer, der Name „Bar jeder Sicht“ lässt sich vielfältig interpretieren. Was steckt dahinter?
Frau Hopf: Ursprünglich hießen wir „Sichtbar“. Da dieser Name jedoch rechtlich geschützt war, mussten wir uns umbenennen. Dabei wollten wir dem ursprünglichen Gedanken treu bleiben, weshalb „Bar jeder Sicht“ entstand. Der Begriff „Bar“ verweist auf unsere Lokalität. Viele unserer Besucher:innen nennen uns immer noch „Sichtbar“, und auch unser Vereinsname bleibt „Sichtbar Mainz e.V.“.
In der Vereinsbeschreibung taucht die Abkürzung „LSBT*IQ“ auf. Können Sie diese für unsere Leser:innen erklären?
Frau Gläßer: LSBT*IQ steht für lesbisch, schwul, bisexuell, trans-, intergeschlechtlich und queer. Die ersten drei Begriffe beschreiben sexuelle Orientierungen, während die anderen geschlechtliche Identitäten betreffen. Das Sternchen steht für weitere sexuelle Orientierungen oder Identitäten, wie zum Beispiel Asexualität. „Queer“ ist ein Sammelbegriff für alles, was nicht der traditionellen Einteilung in Mann und Frau entspricht.
Welche Menschen besuchen die „Bar“ in der Hinteren Bleiche 29, und wie zeigt sich die Vielfalt Ihrer Gäste in Ihrer Einrichtung?
Frau Hopf: Die sexuelle Orientierung oder Identität unserer Gäste ist nicht offensichtlich und das spielt bei uns keine Rolle. Vielmehr zeigt sich die Vielfalt in den über 30 Gruppen aus verschiedenen Bereichen der queeren Community, die regelmäßig zu Stammtischen zusammenkommen. Auch städtische Gruppen oder politische Stammtische nutzen unsere Räumlichkeiten. Zudem ziehen Veranstaltungen, die von politischen Stiftungen unterstützt werden, ein breites Publikum an. Und: in unserem ehrenamtlichen Service-Team engagieren sich auch Personen, die nicht zur queeren Gemeinschaft gehören.
Wie hat sich das gesellschaftliche Bild von queeren Menschen seit der Gründung der „Bar“ im Jahr 2004 verändert?
Frau Gläßer: Lange Zeit hatten wir das Gefühl, dass sich vieles zum Besseren entwickelt hat. Die Politik hat Gesetze angepasst, wie etwa die Einführung der „Ehe für alle“ oder das Adoptionsrecht für gleichgeschlechtliche Paare. Es gab Momente, in denen wir dachten, dass ein Zentrum wie die „Bar“ irgendwann nicht mehr notwendig wäre. Doch in den letzten Jahren hat sich der politische Diskurs verschärft. Hassrede, besonders in den sozialen Netzwerken, ist präsenter geworden. Daher ist es, besonders für junge Menschen, heute umso wichtiger, sichere Orte wie die „Bar“ anzubieten, an denen man Unterstützung und Vorbilder finden kann.
Welche Herausforderungen müssen queere Menschen heute bewältigen?
Frau Hopf: Die Herausforderungen sind sehr unterschiedlich. Eine transgeschlechtliche Person, die eine Transition durchläuft, hat andere Probleme als eine lesbische Frau, die eine Familie gründen möchte. Eine gemeinsame Schwierigkeit bleibt jedoch die Frage, wie viel man im Alltag über sich preisgeben kann, oft begleitet von der Angst vor Diskriminierung oder sogar Gewalt. Auch die erhöhte Suizidrate unter jungen Menschen in der Identitätsfindung zeigt, wie groß der Druck sein kann.
Wie wirkt sich das auf das Leben der Betroffenen aus?
Frau Gläßer: Negativ betrachtet kann das sehr belastend sein. Positiv formuliert führt es oft dazu, dass sich Menschen ein unterstützendes Umfeld schaffen, sei es in der „Bar“, im Internet oder in anderen Communities. Einige sagen sich: „Jetzt erst recht!“ Das zeigt sich etwa beim Christopher Street Day, bei dem Stolz und Selbstbewusstsein im Vordergrund stehen, während gleichzeitig politische Forderungen laut werden.
Selbstverwirklichung spielt in der queeren Lebenswirklichkeit eine große Rolle. Wie unterstützen Sie Ihre Besucher:innen dabei?
Frau Hopf: Wir bieten zahlreiche Beratungen zu Themen wie geschlechtlicher Identität, sexueller Orientierung oder der Gründung einer Regenbogenfamilie an. Unser ausgebildetes Team hilft im persönlichen Gespräch. Darüber hinaus organisieren wir Diskussionsrunden, etwa mit queeren Migrant:innen, die oft mit doppelter Diskriminierung konfrontiert sind. Auch unsere Stammtische bieten eine wertvolle Plattform für den Austausch.
Die „Bar jeder Sicht“ bietet ein abwechslungsreiches Programm. Können Sie uns einen Überblick geben?
Frau Gläßer: Wir veranstalten regelmäßig Kinoabende, Lesungen, Diskussionen und Gesprächsrunden mit Politiker:innen, besonders vor Wahlen. Unser Programm umfasst auch Bildungsangebote zu Gesundheitsthemen, sowie Brunch-, Karaoke-, Musik-, Quiz- und Spieleabende. Drag Shows sind ein Highlight. Und Künstler:innen stellen ihre Werke bei uns aus. Zudem findet bei uns die Mainzer Art Night statt, eine Veranstaltung zum gemeinsamen Malen. Unsere umfangreiche Mediathek ist auch bei externen Interessierten sehr gefragt.
Wie gewährleisten Sie eine diskriminierungsfreie Atmosphäre in Ihrer Einrichtung?
Frau Hopf: Unser ehrenamtliches Team setzt sich überwiegend aus Mitgliedern der queeren Community und deren Sympathisant:innen zusammen, was zu gegenseitigem Verständnis führt. Zudem haben wir uns in unserem Vereinsleitbild klar auf Werte wie Anerkennung, Akzeptanz und Gleichberechtigung verpflichtet. Dennoch bleibt es eine tägliche Herausforderung, respektvoll und vorurteilsfrei miteinander umzugehen.
Glauben Sie, dass die Lebensrealitäten der queeren Community in Mainz ausreichend sichtbar sind? Was könnte dazu beitragen, diese zu steigern?
Frau Gläßer: Sichtbarkeit und Sicherheit hängen eng miteinander zusammen. Desinformation, Hetze, Beleidigungen und Straftaten führen oft dazu, dass sich viele Betroffene zurückziehen. Eine stärkere Förderung durch die Stadt könnte helfen, Orte wie die „Bar“ als sicheren Raum zu erhalten. Darüber hinaus sollte Queerness in allen gesellschaftlichen Strukturen mitgedacht werden. Warum nicht zum Beispiel auf die queere Stadtführung in Touristenbroschüren hinweisen? Solche Maßnahmen regen zum Nachdenken an.
Gibt es konkrete Projekte, bei denen Sie sich engagieren, um die Belange der queeren Community zu fördern?
Frau Hopf: In Mainz setzt sich eine zivilgesellschaftliche Gruppe für ein Prüfverfahren zum AfD-Verbot ein, und wir sind Teil dieses Bündnisses. Auch durch unsere Teilnahme an den runden Tischen der Stadt und des Landes vertreten wir queere Belange. Zudem ist die „Bar“ selbst ein kulturelles und kommunikatives Projekt, das zur Förderung der queeren Community beiträgt.
Erreichen Sie auch Menschen, die nicht queer sind, sich aber für queere Themen interessieren?
Frau Gläßer: Absolut. Unser Barbetrieb ist ein niedrigschwelliges Angebot, das allen offensteht. Auch unsere Veranstaltungen richten sich an ein breites Publikum, und durch unsere Pressearbeit informieren wir über queere Themen.
Welche Botschaft möchten Sie unseren Leser:innen abschließend mitgeben?
Frau Hopf: Studien zeigen, dass bis zu 80 Prozent der Menschen entweder selbst queer sind oder queere Menschen kennen. Diese Gruppe ist ein wichtiger Teil unserer Gesellschaft. Man muss nicht queer sein, um Solidarität zu zeigen. Denn: Wenn es einer Gruppe besser geht, profitieren alle davon. Davon sind wir überzeugt.
WTF
Bar jeder Sicht
Hintere Bleiche 29
55116 Mainz
barjedersicht.de