Ein Leben für den Rettungswagen
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Richard Stenzhorn engagiert sich seit 60 Jahren für den Rettungsdienst und hat viele Menschen sterben sehen. Ein Porträt über einen Alltagshelden und darüber, warum die Gesundheit in Deutschland gefährdet ist.
von Hendrik Heim
Es ist eine kalte Novembernacht im Jahr 1964. In einer Seitenstraße in Wiesbaden-Erbenheim kracht ein Auto gegen eine Hauswand. Die ganze Nachbarschaft wird wach. 20 bis 30 Personen kommen aus ihren Wohnungen und stellen sich an den Unfallort. Alle gaffen, doch keiner handelt. Nur ein 14-jähriger weiß, was zu tun ist. Er befreit die beiden Insassen aus dem Auto und leistet Erste Hilfe, bis die Rettungskräfte anrücken. Dieser 14-jährige ist heute 74 Jahre alt und heißt Richard Stenzhorn. Jene Novembernacht ist der Anfang seiner Karriere als Lebensretter.
Menschen retten als Hobby
Denn Stenzhorn engagiert sich seit nunmehr 60 Jahren im Deutschen Roten Kreuz (DRK). „Am Fußballplatz hingen damals Zettel mit der Einladung, zur DRK-Jugendgruppe zu gehen. Ich dachte mir, so oft wie wir uns beim Sport verletzten, schadet das nicht. Tja, und dieses Engagement hat mich dann nie mehr losgelassen.“ Weil Stenzhorn nicht studieren darf, bleibt Medizin sein Hobby. Neben dem Beruf als Fernmeldetechniker fährt er am Wochenende im Rettungswagen mit, arbeitet sich vom Notfallsanitäter bis zum Rettungsassistenten hoch. „Das ging freitags nach der Arbeit los, und dann auch schon mal bis Sonntag nachts. Und am Montag sind wir alle wieder auf die Arbeit gegangen.“ Seit 2018 konzentriert sich Stenzhorn auf das Ausbilden, führt immer noch bis zu viermal in der Woche Erste-Hilfe-Kurse durch. „Vor ein paar Jahren habe ich eine Auszeichnung vom hessischen Sozialministerium bekommen. Da wurde mal nachgezählt. Man kam auf einige tausend Rettungseinsätze und über 115.000 Menschen, die ich zu Ersthelfern ausgebildet habe.“
„Überall braucht man Freiwillige“
Was macht das mit der Sicht aufs Leben, wenn man so viele Verletzungen, so viele Tote hat sehen müssen? Mit der Zeit lerne man, Sachen auszublenden, streng die nötigen Maßnahmen abzuarbeiten, sagt Stenzhorn. Aber klar, man bleibt ein Mensch mit Emotionen. „Das nimmt einen schon mit.“ Wenn Freunde und Familie ihn fragen, warum er all das mache, kennt der schlanke, junggebliebene Unruheständler nur eine Antwort. „Weil man so viel zurückbekommt. Und weil man einfach gebraucht wird.“ Gerade in diesen Zeiten. Zwar arbeiteten im Jahr 2022 86.000 Personen als Rettungskräfte – ein Anstieg um 71 Prozent in zehn Jahren. Trotzdem warnt der Deutsche Berufsverband Rettungsdienst, dass die Lage kritisch sei. Viele brächen die dreijährige Ausbildung zum Rettungssanitäter vorzeitig ab oder nutzten sie als Sprungbrett für die Medizin. Generell gäbe es mehr Notfälle als früher und gleichzeitig kürzere Schichten pro Rettungskraft. Gerade Ehrenamtliche würden also weiterhin gebraucht. Es vergeht kein Erste-Hilfe-Kurs, an dem Richard Stenzhorn nicht dafür Werbung macht: „Man vergisst, welcher Personalaufwand hinter so einem Einsatz steckt, gerade bei großen Einsätzen. Da brauchen wir auch Leute für die Rettungshundestaffel oder eine Kochgruppe, die für die Patient:innen Suppe kocht.“ Insgesamt gäbe es 17 Abteilungen allein im Rettungsdienst, da sei auch was für Freiwillige dabei, die keine Sanitäter:innen werden wollen.
Das Elixier des Lebens wird knapp
Eine wichtige Botschaft von Stenzhorn ist es, Blut zu spenden. „Es gibt vieles, was man künstlich herstellen kann. Blut gehört nicht dazu. Momentan sind die Reserven nahezu leer, aber wenn jeder auch nur einmal Blut spenden ginge, würde das mehr als ausreichen.“ Den Rettungsassistenten verbindet selbst eine tragische Geschichte mit dem Thema. Bei einer Fahrt im Rettungswagen passiert ein schwerer Unfall, das Fahrzeug liegt auf der Seite, Stenzhorn ist hoffnungslos eingeklemmt. Bald darauf fällt er ins Koma. „Mir fehlen acht Tage meines Lebens. Nur durch eine Blutkonserve bin ich jetzt noch hier.“ An diesem Tag schwor er sich, zwei Mal im Jahr Blut zu spenden. Und hielt es durch.
Helfen statt gaffen!
In Deutschland muss jeder, der einen Führerschein hat, zuvor einen Erste-Hilfe-Kurs absolvieren. Das macht bundesweit 51 Millionen Ersthelfende. Theoretisch. Denn drei Viertel von ihnen haben starke Bedenken, im Ernstfall überhaupt Erste Hilfe zu leisten. Jeder zweite hält sie für eine Sache der Profis. Stenzhorn findet dies höchst bedenklich und mahnt: „Das Schlechteste, was man machen kann, ist, nichts zu machen. Jeder Mensch ist ein Prototyp, jeder reagiert anders. Aber wichtig ist es, zu handeln.“ Auch wenn bei der Reanimation mal ein paar Rippen draufgingen – wichtig sei immer das Überleben. Solange er kann, will Richard Stenzhorn diese Botschaften weitergeben, in Schulen, Unternehmen und Ortsverbänden. Aktiv bleiben. Als der unbekannte Held in Wiesbaden, der er unverkennbar ist.