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Gesellschaft

Chronisch vernachlässigt – akut betroffen

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Zwei Frauen mit medizinischen Masken und Transparenten auf einer Demo für bessere Forschung und Versorgung von ME/CFS Patient:innen

Ein Leben mit der Erkrankung ME/CFS ist geprägt von chronischen Schmerzen und krankhafter Erschöpfung, ständigem Verzicht und dem Kampf um Anerkennung.

von Isabel Page

Ab wann ist ein Leben ein Leben? Diese Frage stelle ich mir seit fünf Jahren unangenehm oft. Sie beißt sich vor allem dann in meinem Kopf fest, wenn ich in einem „Crash“ stecke. Dieser Begriff bezeichnet eine besonders schlechte Phase der chronischen Erkrankung „Myalgische Enzephalomyelitis“ (ME), auch „Chronisches Fatigue Syndrom“ (CFS).
Bereits die gängigen Namen illustrieren zwei der Probleme, die diese Erkrankung behaften. Aufgrund der unzureichenden Forschung der letzten Jahrzehnte fehlt es an einem Biomarker, einem eindeutigen biologischen Merkmal, anhand dessen die Erkrankung nachgewiesen werden kann. Bis heute wurde, wie der Name Myalgische Enzephalomyelitis suggerieren würde, keine Entzündung im Gehirn oder im Rückenmark von Betroffenen nachgewiesen. Es bleibt die Bezeichnung CFS. Sie reduziert die Erkrankung auf eines ihrer Symptome und bagatellisiert das Leiden von Betroffenen, indem sie vermittelt, dass sie nur müde seien.

Belastungsintoleranz

Das eigentliche Hauptsymptom ist die Post-Exertionelle-Malaise, die auftritt, nach jeglicher körperlicher oder kognitiver Belastung. Was Belastung bedeutet, variiert nach Schweregrad der Erkrankung. Bei sehr stark betroffenen Menschen bedeutet Belastung sprechen, kauen, Licht sehen. Für moderat Betroffene, wie mich, heißt das einkaufen gehen, eine Freundin treffen, eine Vorlesung besuchen. Leben also. Mache ich an einem Tag alles davon, endet er in einem Crash. Dann verstärken sich alle Symptome, die ich ohnehin permanent erlebe, für einen unbestimmten Zeitraum, um ein Vielfaches. Dann liege ich bis zu 18 Stunden am Tag im Bett, mit starken Glieder- und Kopfschmerzen, bleischwerer Erschöpfung, geschwollenen Lymphknoten, stechenden Nerven. Manchmal zwei Tage lang, manchmal mehrere Monate.

Mangelnde Versorgung

Stecke ich nicht im Crash, studiere ich. Jedenfalls pro forma. Ein- bis zweimal pro Woche kann ich eine Vorlesung besuchen. Würde man meine Semester aufeinanderstapeln wie Jenga- Klötze, der Turm wäre schon längst kollabiert.
Der Alltag könnte leichter sein für Betroffene, wenn wir nicht überall gegen Wände „rennen“ würden. Viele Ärzte kennen die Erkrankung nicht, in ganz Deutschland bietet die Charité die einzige Anlaufstelle für betroffene Erwachsene, aber nur aus dem Raum Berlin. Eine angemessene Therapie gibt es nicht, Behörden und Krankenkassen stellen sich quer, wenn es um die Bewilligung von Pflege- und Behinderungsgrad, Erwerbsminderungsrente oder Hilfsmitteln geht. Mit dem Satz: „Solange Sie den Löffel selbst vom Teller zum Mund führen können, erhalten Sie keinen Pflegegrad“ erlischt meine Hoffnung auf Unterstützung. Bei Facebook lerne ich Pia kennen, ebenfalls 27, ebenfalls an ME/CFS erkrankt. Unser Gesundheitszustand ist ähnlich, sie erhält die Pflegestufe drei, ich keine, sie erhält den Grad der Behinderung Null, ich 30 Prozent. Wir stellen uns vor, wie die Gutachter zusammensitzen und um unser Leben würfeln.

Mehr Forschung durch „Long-Covid“

Absurderweise sollte die Pandemie sich als Regentropfen auf die vertrockneten Hoffnungssamen von Langzeiterkrankten entpuppen. Absurd, weil die Betroffenenzahl erst weltweit in die Höhe schießen musste, damit endlich etwas passiert. Vor dem Jahr 2020 gab es in Deutschland keine staatliche Forschungsförderung für ME/CFS. Seit klar ist, dass Menschen auch infolge einer Covid-Infektion ein post-virales Fatigue-Syndrom, oder – wie das amerikanische Institute of Medicine treffend vorschlägt – ein „Systemic Exertion Intolerance Disease“ (SEID), entwickeln können, mehrt sich die Forschungsförderung in dem Gebiet. Von pathologischen Veränderungen des Immunsystems, des autonomen Nervensystems, der Mitochondrien, über die Durchblutung verdichten sich die Hinweise, dass ein Autoimmun-Geschehen den Energiestoffwechsel beeinträchtigen könnte.

Medical Gaslighting

Dies könnte auch erklären, warum das Geschlechterverhältnis von erkrankten Frauen zu Männern bei ungefähr drei zu eins liegt. Im Allgemeinen erkranken Frauen häufiger an Autoimmunerkrankungen als Männer. Stärkere Immunreaktionen auf Infekte, wie bei mir das Pfeiffersche Drüsenfieber, könnten das Immunsystem in den Overdrive schicken.
Die Tatsache, dass mehr Frauen betroffen sind, dürfte dazu beigetragen haben, dass die Erkrankung von Politik und Medizin nicht ernst genommen wurde. Egal wie oft ich betone, dass ich nicht unter einer Depression oder melancholischen Nervenschwäche leide, findet sich wiederholt die Diagnose „Neurasthenie“ in meinen Unterlagen. Die Kassenschlager-Frauendiagnose vergangener Jahrhunderte, „Hysterie“, bleibt aber auch in modernen Hüllen genau das, was sie schon immer war: sexistisch und ignorant. Zu schließen, dass es keine biologischen Pathomechanismen gibt, weil sie noch nicht verstanden wurden, oder man nicht bereit ist, sich mit den neuesten Ergebnissen auseinanderzusetzen, ist ein logischer Fehlschluss, keine gute Medizin. In einer medizinischen Welt, in der subjektive Erfahrung nichts gilt, weil noch keine etablierte Sprache existiert, das Gelebte zu benennen, wird Betroffenen ihre Realität und damit in gewisser Weise auch die Existenz abgesprochen. Psychisch krank wird dann, auch zum Unrecht derer, die tatsächlich unter psychischen Erkrankungen leiden, als Restkategorie verwendet.

Niedrigste Lebensqualität

Meine Geschichte und auch die von Pia sind nur zwei von vielen. Prof. Carmen Scheibenbogen von der Charité geht aufgrund von Daten der WHO von bis zu sechs Millionen Erkrankten allein in Europa aus. Die meisten Menschen sind arbeitsunfähig, viele bettlägerig oder größtenteils ans Haus gebunden. Hierzu passt eine Studie der Arbeitsgruppe rund um den dänischen Wissenschaftler Prof. Michael Falk Hvidberg von der Universität Aalborg aus dem Jahr 2015. Hier wurde die Lebensqualität von über 100 dänischen ME/CFS-Erkrankten ermittelt und festgestellt, dass ihr Wert im Schnitt unter dem von 20 anderen chronischen Erkrankungen liegt. Dazu gehören Multiple Sklerose, Schlaganfall und verschiedene Formen von Krebs. Ich versuche mich daran zu erinnern, dass ich mich mit meinem aktuellen Zustand noch glücklich schätzen kann. Oft fühle ich mich schuldig, wenn ich traurig darüber bin, nicht mehr wandern oder tanzen gehen zu können, nicht zu wissen, ob ich jemals eine Familie haben werde. Es ist nicht leicht, Glück aus dem Wissen zu ziehen, dass es in den vergangenen Jahren Zeiten gab, in denen alles, was ich wollte, wieder ein Klo zu putzen war.
Hinter uns stehen die vielen Familien und Freunde von Betroffenen, die mitleiden, pflegen, experimentelle Behandlungen zahlen und verzweifelt um die Rechte ihrer Angehörigen kämpfen. Am 12. Mai war Internationaler ME/CFS Tag, in 12 Städten Deutschlands fanden Liegend-Demos statt, bei denen bessere Versorgung und Forschung gefordert wurden. Die Erkrankung ist weder neu, die Weltgesundheitsorganisation hat sie bereits 1964 als eigenständige neuroimmunologische Erkrankung deklariert, noch ist sie selten. Es ist Zeit für angemessenes Handeln. Und für mich ist es Zeit, mich hinzulegen, eine weitere Gelegenheit zu kontemplieren, wie viel Leben es zum Leben braucht.

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