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Der Spatz in deiner Hand

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Was kreucht und fleucht im STUZ-Gebiet? Wilde Tiere vor der Haustür, Teil 40: Der Haussperling

von Konstantin Mahlow

In meiner Straße in der Mainzer Neustadt lebt seit Jahren, vielleicht schon Jahrzehnten, eine Spatzenfamilie. Mittlerweile dürfte es sich zwar um die x-te Generation handeln, aber die quirligen Piepmatze sind dennoch wie Altbekannte, die immer da sind, wenn man im Vorgarten das Fahrrad an den Zaun schließt. Sie hüpfen auf ihrer Jagd nach Brotkrümmeln nicht so aufdringlich auf den Tischen herum wie ihre Artgenossen in Berlin oder Rom, sind aber trotzdem nie weit von ihren menschlichen Nachbarn entfernt. Die unterstützten ihre Anwesenheit mit dem permanenten Aushängen von Futterbällen und Nistkästen, was unterm Strich den Eindruck verleiht, dass der moderne Großstadt-Spatz ein passables Leben führt. Doch die Bande in meiner Straße lebt wie ich in einer Blase. Und außerhalb von ihr sieht die Welt wesentlich düsterer aus.

Die eigentlich nur im Volksmund als „Spatz“ bezeichneten Haussperlinge (Passer domesticus) suchen vermutlich schon seit 10.000 Jahren die Nähe des Menschen und zählen so zu den ältesten Kulturfolgern. Es wird angenommen, dass sie uns von den ersten Dörfern bis in die Großstädte folgten – Hauptsache, es war genug Nahrung in Form von Samen, Körnern, Knospen und Insekten vorhanden. Und die Europäer gewöhnten sich an ihre immerzu fröhlich wirkenden Begleiter und nahmen sie im Gegenzug beinahe überall hin mit, wo sie sich selbst ausbreiteten. Die heutige Verbreitungskarte der Spatzen, die ursprünglich nur in Eurasien und Nordafrika vorkamen, sieht fast so aus wie die des British Empires zu dessen Höchstphase. In Nord- und Südamerika, Südafrika, Australien und Neu-Seeland sind Haussperlinge etablierte Exoten. Insgesamt soll es 1,6 Milliarden Exemplare geben – das ist umgerechnet ein Spatz in jeder zehnten Hand.

Sie leben gesellig und brüten wie in meiner Straße oft in Gemeinschaften mit anderen Paaren. Die Nester errichten sie anspruchslos in Nischen und Höhlen an Gebäuden oder Bäumen. Und sie brüten gerne: Drei bis fünf Durchgänge mit jeweils vier bis sechs Küken sind keine Seltenheit und einer der Gründe, warum Haussperlinge zu den häufigsten Brutvögeln in Deutschland zählen. Die Jahrhunderte lange Verbindung zwischen Spatz und Mensch drückt sich in einer Vielzahl von Redewendungen aus, die die Vögel tendenziell negativ dastehen lassen: Der Dreckspatz, ein Begriff, der aus der Vorliebe der Sperlinge für Staubbäder entspringt, aber ungepflegte Personen meint. Das Spatzenhirn als Synonym für Dummheit oder Vergesslichkeit. Die niedrige, wertlose Spatz-Karte im Spiel Schafkopf. Oder der bekannte Ausdruck, lieber einen Spatzen in der Hand als eine Taube auf dem Dach zu haben, also sich lieber mit etwas Kleinem oder sicher Erreichbarem zufrieden zu geben als etwas Wertvolleres zu begehren. Doch das Verhältnis hat sich umgedreht.

Denn während es Tauben ohne Ende auf unseren Dächern gibt, ist es längst nicht mehr sicher, morgen einen Spatzen im Vorgarten zu sehen. Im Haussperling vereint sich eine Ambivalenz, die sinnbildlich für die Situation der europäischen Avifauna ist: Obwohl es noch vier bis sechs Millionen Brutpaare in Deutschland gibt, ist ihr Bestand in den letzten zwanzig Jahren um zwanzig Prozent eingebrochen und sinkt auch weiterhin – so wie auch bei vielen anderen Vogelarten, die man ab und zu noch sieht, deren Populationsentwicklungen aber insgesamt negativ ist. Mittlerweile nimmt der Rückgang so dramatische Ausmaße an, dass Biologen von einer ökologischen Katastrophe in Mitteleuropa sprechen: Seit den 1980ern sind in der EU mehr als 600 Millionen Vögel netto verschwunden, darunter vermutlich 250 Millionen Spatzen – so viele wie bei keiner anderen Art. Schuld daran sind vor allem die Nahrungsverknappung im Zuge der intensiven Landwirtschaft, der Einsatz von Pestiziden, die Abdichtung von als Brutflächen genutzten Fassaden und die Flächenversieglung.

Der stille Frühling wird immer mehr zur Realität – zunächst aber vor allem auf dem Land. In den Wäldern und Städten, in denen kaum gespritzt wird, ist zwar auch längst nicht alles rosig, doch die Bestände vieler Arten bleiben stabil. Der Haussperling leidet hier durch den Wegfall von Brutplätzen durch Hausrenovierungen mit am meisten, doch dafür nimmt er gerne Nistkästen und Futterstellen an. So lässt sich unserem alten Weggefährten noch am ehesten unter die Flügel greifen – auch wenn wir letztendlich nur in unserer gemeinsamen Blase leben.

Foto: Rhododendrites via WikiCommons

 

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