Sind Noten noch zukunftsfähig?
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Seit Jahrhunderten gibt es Noten und für viele gehören sie fest zur Schule dazu. Doch Studien zeigen, dass Noten großen psychischen Druck auslösen können. Spielt diese Art von Bewertung in der Zukunft noch eine Rolle, oder kann es auch anders gehen?
von Hendrik Heim
Schülerinnen und Schüler sind psychisch immer gestresster. Das ergaben gleich mehrere deutsche Studien in den letzten Jahren. Eine Forsa-Studie attestierte 2018 bereits 30 Prozent der Schüler:innen ernsthaften Leistungsdruck – und das vor der Corona-Pandemie. Die neusten PISA-Ergebnisse beziffern die Zahl der Jugendlichen, die „ängstlich“ oder „bedrückt“ im Unterricht sind, auf 14,8 beziehungsweise 16,8 Prozent. Den größten Stress verursacht dabei das eigene Verlangen der Schüler:innen, bessere Noten zu bekommen. Alina, eine Schülerin der Internatsschule Schloss Hansenberg in Geisenheim meint dazu: „Die Benotung meiner Leistung führt dazu, dass ich das Gefühl habe, ich werde als ganze Person darauf reduziert. Deshalb mache ich mir einen riesigen Druck, um ansatzweise stolz auf mich sein zu können.“
Wie also lässt sich der psychische Druck bei Noten mit ihrem eigentlichen Zweck in Verbindung bringen?
Funktion von Schulnoten
Im europäischen Raum gibt es Noten schon seit 450 Jahren. Die ersten Notensysteme wurden dabei in Klöstern entwickelt. Sie führten strenge Zensurensysteme (censura = Kritik, Rüge) in den Klosterschulen ein, vor allem zur Disziplin. Auch in unserer Zeit sollen Noten bestimmte Zwecke erfüllen. Damals wie heute sollen sie zur Motivation dienen. Schüler:innen sollen dazu gebracht werden, dem Unterricht intensiv zu folgen und sich zu benehmen. Außerdem helfen Noten den Eltern dabei, den Lernerfolg ihrer Kinder zu überprüfen. Lehrkräfte können mithilfe von Noten erkennen, wie gut der Lernstoff vermittelt wurde.
Den meisten Stress löst wahrscheinlich die Selektion durch Schulnoten aus. Sie entscheiden darüber, wer auf das Gymnasium geht oder welche Schüler:innen die Real- oder Gesamtschulen besuchen. Eine Frage, die für das weitere Leben sehr entscheidend sein kann. Spätestens bei der Wahl des Studienplatzes spielen Noten eine determinierende Rolle.
Ein Schulweg ohne Noten
Blickt man heute auf alternative Schulformen, findet man durchaus Beispiele, die zeigen, dass es ohne Noten gehen kann. In Deutschland ist die Waldorfschule die bekannteste Schulform. Noten für alle gibt es hier erst in den Abschlussklassen, ein verpflichtendes Sitzenbleiben ist nicht möglich. Trotzdem funktioniert der Unterricht. Auf der Website des Bunds Freier Walldorfschulen heißt es: „Eigeninitiative entwickeln die Kinder und Jugendlichen nicht aufgrund von äußerem Leistungsdruck, sondern aus lebendigem Interesse und persönlicher Begeisterung.“ Dies gelingt durch Fächer, die mehr mit der Lebensrealität der Schüler:innen zu tun haben. Wer beim gemeinsamen Kochen die sieben Getreidearten kennenlernt und danach selbstgebackenes Brot verzehrt, lernt mehr als durch jedes Arbeitsblatt. Theaterprojekte schulen den sprachlichen Ausdruck der Lernenden. Und durch zwei Fremdsprachen ab Klasse 1 gelingt eine spielerische Sprachförderung. Die Bewertung erfolgt durch individuell abgestimmte Beurteilungsbögen und direkte Gespräche.
Aber wird man ohne Noten denn wirklich auf das Berufsleben vorbereitet, dass ja schließlich geprägt von Kontrolle, Ordnung und Verpflichtungen ist? Nun, zumindest spricht nicht viel dagegen, denn in Waldorfschulen werden viel mehr soziale Kompetenzen gelehrt, die ebenso wichtig für das spätere Leben sind, und Fundament jedes guten Arbeitsverhältnisses.
Andere Länder kennen derweil gar keine Noten. Beispielsweise Finnland, dessen Schüler:innen bei internationalen Vergleichen zu den gebildetsten gehören.
Noten sind nicht objektiv
Das wissenschaftliche Ergebnis zur Notwendigkeit von Noten ist derweil: es gibt keine. Der Pädagoge Hans Brügelmann fand 2006 mit seinem Team heraus, dass Zensuren weder objektiv noch personenunabhängig sind. Ferner spielt bei der Notengebung die Herkunft der Schüler:innen immer noch eine große Rolle. Diese starten schon mit ganz unterschiedlichen Voraussetzungen in die Schulzeit. Dass eine ganz unabhängige Leistungsmessung unerreichbar ist, stellten Wissenschaftler:innen in einer 2012 herausgegebenen Studie der Vodafone-Stiftung zu sozialen Ungleichheiten in der Schule fest.
Oftmals lohnt es sich im Leben, das gerade Gültige kritisch zu hinterfragen und nach neuen, besseren Lösungen zu suchen. So auch bei der Notenthematik. Denn Schulnoten sind nicht objektiv, sie sind stets objektifiziert. Sie versuchen, individuelle Leistungen in ein festes Raster zu packen, das Druck auslöst und oftmals demotiviert. Doch schlussendlich lernt man nicht für Noten, man lernt fürs Leben.