Religiosität als Trend?
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In der Internet-Bubble jüngerer Generationen sollen zunehmend religiöse Inhalte kursieren. So zum Beispiel das arabische, aus dem Koran entlehnte Wort „fitna“ oder Posts, die den Tagesablauf junger Muslim:innen oder Christ:innen dokumentieren. Wird Glaube wieder Trend?
von Hannah Maertin
„Mach kein Fitna“ hat sich seit einiger Zeit im Internet-Jargon der jüngeren Generationen niedergeschlagen. Das bedeutet so viel wie „Mach keinen Stress“, bringt aber eine religiöse Komponente mit ins Spiel. Im Koran ist „fitna“ entweder eine harte Prüfung, die den Glauben gefährdet, ein Aufruhr gegen die göttliche Ordnung oder im allgemeineren Sinne ein Konflikt oder eine Zwietracht. Darüber, wie der Begriff in den allgemeinen Sprachgebrauch junger Menschen eingegangen ist, lässt sich nur mutmaßen. Ein Faktor ist sicherlich der Einfluss deutscher Rapmusik, die eine ganze Bandbreite an verschiedenen Nationalitäten und dadurch auch muslimische Elemente in sich vereint. Da Deutschrap spätestens seit Mitte der 2000er Jahre zum absoluten Popkultur-Phänomen avanciert ist und sich vor allem junge Menschen dafür begeistern, sind die Einflüsse der Rapper:innen enorm, zumal sie über Social Media nicht nur ihre Musik, sondern auch ihren Lifestyle und anderen persönlichen Content zugänglich machen. Es ist nicht verwunderlich, dass sich gerade das Wort „fitna“ hier wie ein Lauffeuer verbreitet, denn öffentlich ausgetragene Konflikte zwischen einzelnen Interpret:innen sind im Deutschrap nicht nur an der Tagesordnung, sondern auch eine beliebte PR-Strategie und Masche. Wer Beef miteinander hat, lenkt die Aufmerksamkeit auf sich, erntet mehr Klicks, mehr Reichweite und damit mehr Geld. Von strenger Gottesfürchtigkeit oder Religiosität kann im Deutschrap allerdings nicht die Rede sein. Im Gegenteil: die meisten inszenieren sich als Gangster, die überhaupt keine vorgeschriebenen Regeln akzeptieren.
Von der Krise zum Glauben
Ein anderer Faktor, der zur Popularität religiöser Inhalte beigetragen haben mag, ist die Zeit während der Corona-Jahre, in denen sich viele junge Menschen erstmals auf Sinnsuche begeben und dann per online-Recherche zu ihrem Glauben gefunden haben. Immerhin befand man sich in einer nie dagewesenen Unsicherheit und konnte viele identitätsstiftende Elemente wie zum Beispiel Hobbies nicht mehr ausüben. Zugehörigkeit finden, Grenzen austesten, Identität ausloten – alle diese, für die jungen Jahre essenziellen Erfahrungen konnten auf einmal nur noch vor dem Bildschirm stattfinden. Hinzu kommt die unter jungen Menschen weit verbreitete Zukunftsangst, die nicht erst durch die Pandemie, sondern sicherlich auch von dem Gefühl ausgelöst wird, in einer Welt aufzuwachsen, die im Begriff ist unterzugehen. Wozu weitermachen, wenn es keine Zukunft mehr gibt? Der Islam mit seinen klaren Regeln kann hier den gesuchten Halt geben, denn er bietet die Möglichkeit, trotz aller äußerer Widrigkeiten ein guter Mensch zu sein, der am Ende belohnt wird. Das gilt ebenfalls für das Christentum. In sogenannten Freikirchen wird der althergebrachte Gottesdienst durch lebendigere und modernere Formate ersetzt, die bei jungen Menschen gut anzukommen scheinen. Nicht selten kommen hier Personen zusammen, die früher ein ausuferndes Partyleben geführt haben, und sich nun zu Enthaltsamkeit, Gottesfürchtigkeit und Porno- sowie Masturbations-Abstinenz bekennen.
Rebellion durch Religion?
Der anachronistische Konservatismus der jungen Generation scheint zunächst ungewöhnlich. Immerhin stehen neue Generationen eigentlich für die Rebellion gegen alte Werte und nicht für das Wiederaufleben-Lassen derselben. Nicht umsonst beschwert man sich schon seit der Antike über die „Jugend von heute“, die Autoritäten missachte, verschwenderisch lebe und keine Selbstbeherrschung habe. Ist es nicht eine Art Naturgesetz, dass sich die jungen Generationen von den Werten, mit denen sie aufwachsen, früher oder später abwenden? Vermutlich schon. Die jungen Gläubigen, die sich aus freien Stücken für ihren Weg entschieden haben, wenden sich nämlich von den Werten der Baby-Boomer ab; einer Generation, die vorwiegend atheistisch geprägt ist. Hinzu kommt, dass die Mentalität der Baby-Boomer, als hedonistisch und konsumorientiert sowie als maßgeblicher Katalysator der Klimakrise gilt. Eine Abwendung von ihren Werten in Form einer radikalen Hinwendung zum Glauben auszuführen, könnte ein Motiv der jungen Gläubigen sein. Immerhin zeigen Bewegungen wie Fridays for Future, dass junge Menschen ein starkes Bewusstsein für das haben, was eine richtige und was eine falsche Lebensweise ist. Religiosität und Gottesfürchtigkeit stellen das Gegenteil der unregulierten Lebensweise der vorigen Generation dar und übernehmen so eine ähnliche Funktion wie damals Punkrock und Iro-Frise: Als Statement gegen etablierte Werte und gegen das bestehende System grenzen sie die junge Generation von ihren Eltern ab und verleihen ihnen eine eigene Art und Weise der Selbstwirksamkeit.