Das Nervensystem, das nervt
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Es ist davon auszugehen, dass sich unser Nervensystem seit 100.000 Jahren nicht verändert hat. Unser Lebensstil aber schon. Anstelle eines aktiven Lebens in der Natur prägen Bewegungsarmut und Reizüberflutung unseren Alltag. Welche Folgen hat das für unser Wohlbefinden?
von Hannah Maertin
Fight or Flight
Die zentrale Aufgabe unseres vegetativen Nervensystems ist, unsere Umgebung wahrzunehmen und unsere körperliche Verfassung daran anzupassen. Droht Gefahr, macht es uns leistungsfähig für Kampf oder Flucht, befinden wir uns in Sicherheit, sorgt es für Erholung. Und zwar ohne unser willentliches Zutun; denn das vegetative Nervensystem arbeitet autonom. Es reagiert darauf, wie wir die Geschehnisse um uns herum interpretieren. Haben wir zum Beispiel Angst vor einem Termin mit den Vorgesetzten, kann sich die Reaktion des Nervensystems so anfühlen, als müsste man zu einem wilden Tiger in den Käfig steigen. Die Empfindungen, die wir in einer solchen Situation wahrnehmen, kennen wir als ‚Stress‘: Unser Herz pumpt schneller und stärker, unser Hungergefühl schwindet, wir schwitzen und fühlen uns wie in einem Tunnel. All das passiert, wenn der Teil des Nervensystems aktiviert wird, der für die Bewältigung von Gefahr zuständig ist: der Sympathikus.
Wir können diesem Modus dankbar sein, denn er hat das Überleben unserer Spezies ermöglicht, indem er uns vor Fressfeinden geschützt und uns mit der nötigen Energie versorgt hat, um trotz einer Hungerperiode jagen gehen zu können. Das Problem ist nur, dass es im heutigen Alltag der westlichen Welt keine Fressfeinde und auch keine Hungersnot mehr gibt. Das, was unseren Sympathikus aktiviert, sind emotionale Krisen, die Arbeit, Autofahren oder an einem Black Friday shoppen zu gehen. Leider ist der Gefahrenmodus hier fehl am Platz, denn mit beschleunigtem Puls, Schweißausbrüchen und Tunnelblick verlieren wir die Fähigkeit, vernünftig zu handeln. Es ist, als hätten wir ein uraltes Antiviren-Programm auf der Festplatte, das sich nicht mit den neuen Systemupdates verträgt und nur noch Probleme verursacht. Was uns damals beschützt und geholfen hat, steht uns heute im Weg.
Entspannung und Regeneration
Zum Glück gibt es das andere Gesicht des vegetativen Nervensystems: den Parasympathikus. Er wird aktiviert, wenn wir uns in einer sicheren Umgebung befinden. Unser Herz schlägt langsamer, wir entspannen uns und die Energie wird vor allem für die Verdauung bereitgestellt. In diesem Modus können sich unser Geist und unser Körper von den vergangenen Herausforderungen erholen und so regenerieren, dass sie auf die nächste vorbereitet sind. Ein toller Service, wenn es uns erst einmal gelungen ist, zur Ruhe zu kommen. Das fällt uns heute nämlich nicht gerade leicht.
Anstatt uns hinzulegen, tief durchzuatmen und uns bewusst zu entspannen, starren wir auf leuchtende Displays, in denen alles andere als Ruhe herrscht. Für unser Nervensystem bedeutet das permanente Aktivität, denn es muss ja die Geschehnisse in unserer Umgebung prüfen. Und zu dieser Umgebung zählen nun einmal auch die Reize, die von unserem Smartphone ausgehen. Von außen betrachtet, befinden wir uns in Sicherheit, wenn wir auf der Couch liegen und durch Social Media scrollen. Aus der Perspektive des Nervensystems hingegen nicht. Jeder Tweet, jedes Reel und jeder Post verhindern die Aktivierung des Parasympathikus und damit die Regeneration und Erholung, die wir brauchen.
Welche Situation ist dein Fressfeind?
Auch, wenn das vegetative Nervensystem autonom arbeitet, können wir Einfluss darauf nehmen. Schauen wir zum Beispiel einen Horrorfilm, können wir uns entweder darauf einlassen und die Aktivierung des Sympathikus provozieren, oder wir können uns distanziert verhalten und die Reaktion des Nervensystems abschwächen. Genau dasselbe ist auch in Stress-Situationen möglich. Denn ebenso wie beim Horrorfilm droht auch bei dem Gespräch mit den Vorgesetzten keine reale Lebensgefahr. Steigern wir uns aber in diese Situationen hinein, schaltet unser Nervensystem auf Überlebensmodus. Trotzdem ist klar, dass Stress nicht immer vermieden werden kann. Er ist eine wichtige Funktion unseres Nervensystems, die uns beschützen soll. Leider passt sie nicht mehr zu unserem Lebensstil. Anstelle von Kampf und Flucht stehen heute Sitzen, Denken und Tippen. Das soll nicht heißen, dass man dem Chef die Fresse polieren oder jedes Mal die Flucht ergreifen soll, wenn es stressig wird. Es heißt nur, dass man die – in „Gefahren“-Situationen bereitgestellte Energie – am besten in Bewegung umsetzt.
Illustration: Nikolas Hönig