Lade

Tippen zum Suchen

Gesellschaft

Graffiti – ein Mittelfinger an die Ordnung

Teilen

Graffiti sind ein Phänomen, das man nur schwer zuordnen kann. Sind sie Vandalismus? Sind sie Kunst? Oder eine ganz eigene Kategorie? STUZ-Autorin Hannah hat versucht, sich der Sache anzunähern.

von Hannah Maertin

Viele Menschen mögen die Graffiti. Denn sie machen den öffentlichen Raum bunter, interessanter, lebendiger. Man ist fasziniert von den illegalen „Kunstwerken“ und misst ihnen einen ästhetischen Wert bei. „Lieber Graffiti als dieses sterile Einheitsdesign der Neubauten“, sagt man sich und genießt lieber ein Bier in der heruntergekommenen Stadtkneipe als einen Cocktail in der durchgestylten Franchise-Bar. Es ist der Charme des Subkulturellen, der hier lockt. Man will authentische Lebensräume und authentische Menschen, und die Graffiti gelten als visuelles Wahrzeichen dieser Authentizität. Ihrer Anziehungskraft folgend, ziehen Menschen aus wohlhabenden Gesellschaftsschichten und bürgerlichen Verhältnissen in die urbanen Viertel, um rund um die Uhr von lebendigen Wänden umgeben zu sein. Die demografische Umwälzung namens Gentrifizierung nimmt ihren Lauf und aus den bewunderten bunten Wänden werden Schaufenster und grauer Beton. So trägt die Sympathie mit dem Subkulturellen sukzessive zur Abschaffung der Graffiti bei und bald findet man sich in genau derselben sterilen Kommerzwelt wieder, vor der man ursprünglich geflohen ist.

Geschmiere
Graffiti als Kunst oder Kulturgut zu verehren, scheint der Sache nicht gerecht zu werden. Man verwechselt sie mit Street-Art und den Werken von Auftrags-Künstler:innen, die gezielt zu einer optischen Verschönerung der Städte beitragen sollen und in einem legalen Kontext entstanden sind. Graffiti hingegen scheinen eher auf das Gegenteil abzuzielen. Sie besudeln die Wände, die Züge, die Brücken und verunstalten das originale Design der Architektur. Sie nach künstlerischen Kriterien zu beurteilen, ist plump gesagt genauso sinnlos, wie einen Hundehaufen auf dem Gehweg als Kunstwerk abzufeiern. Kann man machen, ändert aber nichts an der Tatsache, dass es sich um illegale Hinterlassenschaften handelt. Die Graffiti können, wenn überhaupt, nur an den ästhetischen Maßstäben gemessen werden, die die Writer selbst anlegen. Für alle anderen sind sie Sachbeschädigung, Geschmiere. Und deswegen ist die einzige probate Haltung, ihnen mit Unverständnis und Ärger zu begegnen. Das bürgerliche Lager braucht hierüber nicht lange nachzudenken, denn die Graffiti sind der absolute Gegenentwurf zum bürgerlichen Ideal: Alles soll hübsch, ordentlich und sauber sein, denn diese Reinlichkeit repräsentiert ein friedliches und gehorsames Leben. Die Writer zerstören dieses Ideal, und zwar mutwillig und gerne. Denn sie gehören einer Gegenkultur an, die nicht friedlich ist und nicht gehorsam. Das Risiko, das sie für die Graffiti in Kauf nehmen, ist nicht unerheblich. Im schlimmsten Fall droht Gefängnis und die Überwachung ist streng. In manchen Städten werden sogar Polizeihubschrauber eingesetzt, um Jagd auf die Vandalen zu machen. Der Ordnungsapparat gibt die Verfügungsgewalt über das Erscheinungsbild des öffentlichen Raums nicht kampflos auf. Straftat bleibt Straftat, auch wenn es sich nur um Farbe handelt. Aber ist eine derartige juristische Härte gerechtfertigt? Die meisten Graffiti haben ja nicht einmal eine Botschaft. Sie sind Juni STUZ 9 kein Hatespeech und kein Aufruf zum Sturz der Ordnung, und selbst wenn, wäre es in vielen Fällen gegenstandslos, denn die Schriftzüge zu entziffern, stellt oft eine Herausforderung dar. Wozu also dieser enorme Aufwand, diesem sinnlosen Geschmiere Einhalt zu gebieten? Verbirgt sich vielleicht doch mehr dahinter?

„Anti-Diskurs“
Der französische Medientheoretiker Jean Baudrillard hat eine mögliche Antwort auf diese Frage entwickelt. Er verfolgt die modernen Graffiti zu ihrem Ursprung im New York der späten 60er Jahre zurück, wo die Aufstände der schwarzen Bevölkerung, die sich gegen die rassistische Politik zu wehren versuchte, von der Polizei brutal niedergeschlagen wurden. Die These Baudrillards: Die Proteste sind dadurch zwar beendet worden, nicht aber der Widerstand. Dieser bahne sich seinen Weg auf andere Weise und finde Ausdruck in den Graffiti, die ab dem Frühjahr 1972 wie eine Welle über New York hereinbrechen. Damals handelt es sich noch um einfache Schriftzüge ohne stilistische Elemente. Die Namen, die die Ahnen der heutigen Writer hinterlassen, stammen oft aus Comics, gefolgt von den Straßennummern der schwarzen Ghettos. Keine politischen Parolen, keine Kampfansagen, sondern lediglich Pseudonyme. Baudrillard erkennt hierin eine Rebellion gegen die Prinzipien des herrschenden Systems an sich. Denn die Graffiti machen sich breit zwischen Werbung und Straßenschildern, den Emblemen der herrschenden Kultur, mit denen der städtische Raum in Ghetto und Nicht-Ghetto eingeteilt wird. Pseudonyme wie „EDDIE 135, WOODIE 110“ und „SHADOW 137“ können nicht gelesen werden wie die restlichen Inschriften der Stadt. Sie erfüllen nicht die Funktion, die man von Schrift erwartet, sondern versperren sich der Decodierung. Sie irritieren und verunsichern und führen das Medium Schrift ad absurdum. Baudrillard bezeichnet sie als „Anti- Diskurs“, der mit allen offiziellen Strukturen bricht. Mit dem Blick, der durch die Strukturen des herrschenden Systems konditioniert ist, können die Graffiti nicht verstanden werden, denn sie entziehen sich jedem Bezugssystem. Baudrillard spricht vom „Aufstand der Zeichen“, der das System an einer sensiblen Stelle verwundet, – nämlich in seiner „Produktions- und Verteilungsweise“. All das klingt nach einer durchgeplanten, intellektuellen Bewegung; als hätte man sich zusammengesetzt und überlegt, wie der Angriff auf das System am besten gelingen kann. Baudrillard aber vertritt die Ansicht, dass die Graffiti von „einer Art revolutionärer Intuition“ ausgegangen sind und sich organisch verbreitet und weiterentwickelt haben. Die Stimmen der schwarzen Bevölkerung New Yorks sollten stumm sein und ihre Existenz unsichtbar. Die Graffiti jedoch bezeugen, dass diese Ausgrenzung nicht gelang. ‚Ich war hier‘, lautet ihre einzige Botschaft, ‚Ich war hier, ich lebe und ich halte mich nicht an die Regeln.‘ Auch wenn die Writer Pseudonyme verwenden und ihre eigentliche Identität verschleiern, stehen die Graffiti für ihre Existenz. Zuerst nur für die der schwarzen und puerto-ricanischen Jugendlichen im New York der 70er Jahre, heute für die von Menschen auf der ganzen Welt.

Fazit
Die Graffiti als Kunst abzufeiern, ist für Baudrillard ein Griff ins Klo, denn genau diese Reduktion auf ästhetische Prinzipien mache „die eigentliche Form“ der Kultur aus, gegen die die sich die Graffiti ursprünglich richteten. Indem man die Lackierungen als Kunstwerke betrachtet, stülpt man ihnen also etwas über, das ihnen nicht gerecht wird. Das erklärt auch den Zusammenhang zwischen Gentrifizierung und vermeintlichen Graffiti-Liebhabern, denn sie werden aus dem falschen Grund von den Graffiti angezogen. Sie verwechseln rebellische Phänomene mit hübschen Accessoires und verwandeln die subkulturelle Welt nach und nach in genau das, wonach sie suchen: eine Welt, die schön ist und in der man sich schöne Dinge kaufen kann. Ironischerweise wird es den Graffiti viel eher gerecht, sich über sie zu empören und sie als Geschmiere zu titulieren. Denn die Empörten sollen empört sein und sie sollen sehen, dass die Regeln, nach denen sie leben, von anderen mit Füßen getreten werden. Der kleinkarierte Ordnungsfanatismus des bürgerlichen Lagers, das mittags auf einem Kissen gestützt die Straße beobachtet und die Graffiti als Geschmiere beschimpft, wird den Graffiti also besser gerecht als die ästhetische Orientierung von zugezogenen Subkultur- Sympathisant:innen, die genau die Kultur mit sich bringen, gegen die Graffiti rebellieren. Wenn es so etwas wie soziologische Ironie gibt, dann ist das wohl ein Paradebeispiel dafür.

Tags
Vorheriger Artikel
Nächster Artikel