Abstraktion und Archaik
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Vor kurzem war ein Monumentalwerk des Künstlers Ernst Wilhelm Nay aus den 1960er Jahren, vier mal vier Meter groß, im Berliner Kanzleramt, mit Kanzler und Entlastungspaket live im TV. Eine Nay-Retrospektive im Museum Wiesbaden zeigt nun mehr vom „Deutschen Picasso“.
von Marc Peschke
Jenes „Augenbild“ aus dem Kanzleramt des 1902 in Berlin geborenen und 1968 in Köln verstorbenen Künstlers Ernst Wilhelm Nay ist eines, das aus den frühen 1960er Jahren stammt und damals auf der documenta zu sehen war. In jenen Jahren nach dem zweiten Weltkrieg war Nay einer der bedeutendsten deutschen Künstler an der Schwelle von Abstraktion und Realismus: eine große Nummer der Nachkriegsavantgarde, ein unter den Nazis verfemter, als „entartet“ diffamierter Künstler, damit unverdächtig und staatstragend.
Dass Nay sich bei den Nazis beliebt machen wollte, dass er sogar Führerbildnisse malte und in den späten 1930er Jahren überaus aufgeschlossen war für die nationalsozialistische Weltanschauung, das ist ein lange eher unbeachtet gebliebener Teil seiner Biografie. „Blut und Erkenntnis“, schrieb Nay ganz im Stil der Nazi-Kunst-Propaganda, „ … aus diesen Kräften erheben sich die Urkräfte, die mythische Verankerung. Nach dieser allein strebe ich.“ Mehr darüber lesen kann man im umfassenden Katalog der großen Nay-Retrospektive, die jetzt im Museum Wiesbaden präsentiert wird.
Ein deutscher Picasso
Dort können wir – erstmals in einer großen Ausstellung seit Dekaden – einen Maler erleben, der schon früh Erfolg hatte. Der von Matisse und der französischen Kunst inspirierte ehemalige Meisterschüler von Carl Hofer an der Berliner Kunstakademie war bereits 1931 Stipendiat an der renommierten Villa Massimo in Rom. 1937 und 1939 reist er nach Norwegen, besucht dort Edvard Munch und malt seine „Lofoten-Bilder“. Nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus konnte er zum großen Star aufsteigen. Ein „deutscher Picasso“ wurde er genannt – und stellte 1955 bei der ersten Documenta aus, genauso wie bei der zweiten und dritten Kasseler Kunstschau und 1948 auch bei der Biennale von Venedig. Etwa 120 Gemälde, Aquarelle und Zeichnungen zeigt die Wiesbadener Schau, die noch einmal konzentriert darstellt, dass Nay eine große, verbindende Kraft zwischen der Vorkriegs- und Nachkriegskunst ist.
An seinem Werk können wir nun bis zum 5. Februar die Entwicklung vom Expressionismus hin zur der freien gestischen Malerei nach 1945 exemplarisch studieren und begreifen. Seine Arbeit in Serien, seine „Rhythmischen Bilder“, „Scheibenbilder“ oder „Augenbilder“ werden seit Jahren auf dem Kunstmarkt immer höher gehandelt, vor allem auch die späten, farbexplosiven Arbeiten, die derzeit von einer neuen Generation von Sammlern und Kuratoren entdeckt werden.
Botschafter eines neuen Westdeutschland
Immer wieder wurde Nay vorgeworfen, seine Abstraktionen seien dekorativ und inhaltsleer. Gleichzeitig konnte Nay in der BRD zu einer Art „ Botschafter eines neuen Westdeutschland“ aufsteigen, wie das „Handelsblatt“ kürzlich bissig kommentierte. Seine Bilder wurden nicht nur von den bedeutendsten deutschen Kunstsammlungen, sondern auch von den großen Kunstsammlungen der Welt angekauft, wie etwa vom Centre Pompidou, von der Tate Modern, dem Stedelijk Museum, dem Metropolitan Museum of Art, dem Museum of Modern Art und dem Solomon R. Guggenheim Museum.
Der Stadt Hamburg war Nay besonders eng verbunden. Hier waren seine Werke 1947, 1955, 1964 und 1969 zu sehen. Hier hatte er eine Gastdozentur an der Landeskunstschule inne. Doch auch im Rhein-Main-Gebiet hat Nay deutliche Spuren hinterlassen: Nach dem Krieg und seiner Zeit als Wehrmachtssoldat zieht er nach Hofheim, wo seine Hekate- und Fugalen Bilder entstehen. Hier wurde ihm von seiner Freundin Hanna Bekker vom Rath ein Atelierhaus vermittelt, wie Nay berichtet: „Ich habe das ganz Häuschen für mich, es liegt oberhalb des kleinen Städtchens mit weitem Blick über die Mainebene zum Odenwald hin.“ Nay arbeitete bis 1951 in Hofheim, um dann nach Köln zu ziehen, wo erste ganz abstrakte Werke entstehen. Aber auch schon vor dem Krieg war Nay in Hofheim und Wiesbaden, wo er Alexej von Jawlensky kennenlernte, mit dem er Werke tauschte.
Abstraktion und Archaik
Und so kann man nun in Wiesbaden ein Werk betrachten, das in seiner Widersprüchlichkeit für die deutsche Kunst der 20. Jahrhunderts steht. Abstraktion und Archaik, Mythos und Farbenpracht, Urkräfte: Nay, der bedeutendste Vertreter der deutschen Nachkriegsmoderne, ist einer jener so typisch deutschen Künstler, welche die Abstraktion als Möglichkeit verstanden, das eigene nationale und nationalsozialistische Erbe endlich hinter sich zu lassen. Dass ihm dabei hervorragende Arbeiten gelangen, die ganz selbstverständlicher Teil einer internationalen Nachkriegsmoderne wurden, auch das zeigt diese bedeutende Ausstellung in Wiesbaden.
Bild: Ernst Wilhelm Nay Stiftung, Köln ⁄ VG Bild-Kunst, Bonn 2022, Foto: Museum Wiesbaden / Bernd Fickert
Katalog
Es erscheint ein reich bebilderter wissenschaftlicher Katalog mit Beiträgen renommierter Autorinnen und Autoren im Wienand Verlag, Köln. 34 Euro
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Museum Wiesbaden
Ernst Wilhelm Nay – Retrospektive
Bis 5. Februar 2023
Friedrich-Ebert-Allee 2, 65185 Wiesbaden
museum-wiesbaden.de
Di, Do 10 bis 20 Uhr / Mi, Fr 10 bis 17 Uhr / Sa, So 10 bis 18 Uhr