Mai der Enthüllungen
Teilen
„Es wird Zeit, dass die Masken fallen“ ist nicht nur einer der beliebtesten Sätze im Reality-TV, sondern scheint das Motto im Mai gewesen zu sein. Erst Heimwerkerkumpel Fynn Kliemann, jetzt Modelmama Heidi Klum. Demaskiert euch, Held:innen unserer Zeit!
von Myriam Neureuther
Fynn Kliemann wurde seine „fair produzierte Maske aus Europa“ vom Gesicht gerissen und entblößte eine unfair produzierte Maske aus Bangladesch. Schneidet man der gespendeten, fehlerhaften Maske noch die schlecht vernähten Gummibänder durch, erscheint darunter nicht die ehrliche Haut des quirligen Heimwerkers, Musikers und Aktivisten. Wir wollten an den selbstlosen, verpeilten Weltverbesserer glauben und haben offenbar einen Bezos im Thunberg-Pelz bekommen.
Mindestens genauso viel Spaß wie Kliemann beim Bau eines Hausbootes, hat Jan Böhmermann offensichtlich auch an der Enthüllung des Betrugs. In seiner Satiresendung singt er ein Lied über Kliemann und nennt ihn liebevoll-herablassend „Fynni“, schon eine ganze Weile hat er Kliemann auf Instagram parodiert. Die Webseite, LMAAFK (Leck mich am Arsch, Fynn Kliemann), die die Recherche zusammenfasst, segelt auch nicht gerade unter neutraler Flagge durchs Netz. Investigativer Journalismus wird mit Entertainment gemischt und das Image unwiederbringlich zerstört. Um es mit Kliemanns Worten aus einem seiner Songs zu sagen: „Du baust mich auseinander, bis nichts mehr von mir übrig ist.“
Was muss passieren, bis von Heidi Klum im deutschen Fernsehen nichts mehr übrig ist? Reichen die Anschuldigungen, die ehemalige Teilnehmerinnen im Mai gegen ihre Show GNTM und die Produktionsfirma Redseven erheben? Heidi ist doch ein Vorbild für tausende Mädchen und die neue große Verfechterin von Diversity! Inmitten dünner junger Frauen befinden sich unter den letzten Kandidatinnen auch eine PoC, eine Ältere und eine etwas Kurvigere. Sogar ein kultiges Mutter-Tochter-Duo ist am Start – Modeln ist sympathische Familiensache! Vergessen sind die Zeiten, in denen der Hüftumfang schlanker minderjähriger Mädchen vor laufender Kamera von der Jury vermessen und für „schockierend“ befunden wurde. Vergessen, wie Heidi mit „Bauch einziehen, Bauch, Bauch, Bauch“ junge Frauen in die Essstörung kreischt. Heidi Klum inszeniert sich nicht als Wohltäterin und ob sie Arbeiter:innen in Asien für ihre Lidl-Kollektion „Esmara“ ausbeutet sei dahingestellt. Sie inszeniert sich als Ikone, während sie minderjährige Mädchen und junge Frauen für ihre Show ausbeutet. Wir wussten, dass es schlimm ist. Aber so schlimm?
Psychischer Missbrauch, Manipulation, Isolation, provozierter Streit, böswillig verfälschende Darstellung ihres Charakters durch die Produktionsfirma – die ehemalige Finalistin Lijana bricht in einem YouTube-Video ihre vertragliche Schweigepflicht und die Herzen aller, die noch an das Gute in Heidi geglaubt haben. Die Redaktion entscheide, wer welche Rolle in der lustigen Heidi-Show einnimmt und wer wann rausfliegt. Heidi sei „das so total egal“, denn „die macht einfach richtig, richtig Asche“. Die Tränen junger Frauen, die sich für das jährliche Nacktshooting nicht vor den Augen der 48-jährigen Multimillionärin und einem Millionenpublikum ausziehen wollen und es dann doch tun, sind einfach guter Content. ProSieben bestreitet alle Vorwürfe und erinnert: Als Lijana nach ihrer Teilnahme so schweres Cybermobbing erlebt, dass sie unter Polizeischutz gestellt werden muss und unter Suizidgedanken leidet, hilft Pro- Sieben großzügig mit einer Anti-Cybermobbing- Kampagne. Der Schul-Bully, der das „Tritt mich“-Schild an ihren Rücken geklebt hat, nimmt sie vor den Augen des Rektors in den Arm. Nathalie, die bei ihrer Teilnahme 16 Jahre alt war, schreibt auf Instagram: „Heidi Klum macht Leben kaputt“.
Wo gehobelt wird, fallen Späne und wo Held:innen kreiert werden, fallen Lügen – und irgendwann schließlich die Masken.
Illustration: Leon Scheich