Der Turm, mein Nachbar
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Habt ihr euch schon gefragt, was es eigentlich mit dem Holzturm in der Mainzer Altstadt auf sich hat? Unser Autor wohnt ihm seit mehr als 4 Jahren gegenüber und das Innenleben des Turms ist ihm noch immer ein Mysterium.
Von Luca Bartolotta
Jeden Morgen nach dem Aufstehen, jeden Abend beim Zubettgehen, auf den Holzturm ist Verlass, der Holzturm ist immer da. Schon seit mehr als 650 Jahren steht er dort, an der Holzstraße Richtung Augustinergasse in der Mainzer Altstadt. Seine prägende Gestalt, die charakteristischen Spitzbogenfenster und das spitz zulaufende Dach erhielt der Holzturm aber erst Mitte des 15. Jahrhunderts, nach Ende des zweiten Weltkriegs wurde er nochmals saniert. Übrigens: Der tiefergelegene, freie Bereich unter dem Holzturm war früher tatsächlich noch ein Torbogen auf Straßenhöhe, der den Eingang zum Mainzer Holzmarkt markierte. Der Holzturm hat außerdem einen architektonischen Bruder, den Eisenturm. Gelegen an der heutigen Bushaltestelle Rathaus/Rheingoldhalle ist der Eisenturm ebenfalls ein Bauwerk aus dem 15. Jahrhundert mit gotischer Bauweise und diente damals gleichermaßen als Eingang zur Stadt.
Robin Hood aus dem Hunsrück
Viele Geschichten ranken sich um den Holzturm, insbesondere seit Beginn der Neuzeit. Ab dann wurde dieser nämlich vorwiegend als Gefängnis für Kriminelle aus dem Umkreis genutzt. Der wohl bekannteste unter ihnen war der regional überaus berüchtigte Schinderhannes und seine Räuberbande. Bürgerlich hieß der Schinderhannes Johannes Bückler und wurde vermutlich 1779 im Taunus geboren. Seinen Beinamen bekam Bückler, da er wie der Rest seiner Familie als Schinder arbeitete. Ein Schinder war übrigens so etwas wie eine Art Müllabtransport für Tierkadaver, selbst für damalige Zustände ein sehr schlecht angesehener Beruf.
Die kriminelle Karriere Bücklers begann schon früh, nach abgebrochener Lehre verzog er sich mit einer stetig wechselnden Bande an Räubern in den heutigen Hunsrück. In der gesamten Rhein-Main Region unternahm die Gruppe Raubzüge, nahm von den Reichen, weil es bei den Armen wohl nichts zu holen gab, und steckte es sich in die eigene Tasche. Auch vor Mord schreckte der Schinderhannes nicht zurück. Angesichts der historischen Fakten ist der heutige Mythos vom „Robin Hood aus dem Hunsrück“ deshalb eher ein romantisiertes Bild aus der Regionalgeschichte. Im Jahr 1802 wurde er von der französischen Besatzungsmacht festgenommen und für mehrere Monate im Holzturm eingesperrt, bevor er mitsamt 19 seiner Gefolgsleute zum Tode verurteilt wurde. Mehr als 30.000 Schaulustige wohnten damals der öffentlichen Exekution im heutigen Volkspark bei.
Und heute?
Seitdem ist es still geworden um meinen steinigen Nachbarn. Schon oft habe ich mir vorgestellt, was wohl im Inneren des Holzturms verborgen sein könnte. Vielleicht noch Kritzeleien des Schinderhannes an den Wänden oder gar eine Nachricht an die kommenden Generationen? Vater wurde der Schinderhannes vor seinem Tod nämlich auch noch, seine Nachfahren leben bis heute im Taunus. Nach intensiver Recherche fällt das Mysterium um das Innenleben des Holzturms eher ernüchternd aus: Der Ortsverband der Mainzer Amateurfunker hat seit mehreren Jahren im Obergeschoss Stellung bezogen, öffentlich zugänglich ist der Turm schon länger nicht mehr.
Falls ein wohlgesonnener Amateurfunker/ eine Amateurfunkerin also bereit ist, einem Wahlmainzer einen kleinen Traum zu erfüllen, bitte gerne eine Nachricht an ljb@stuz.de oder als Leserbrief an die Redaktion. Kurzwelle empfange ich leider nicht.