Holt euch die Straße zurück!
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„Eine Straße, die vibriert, die lebt und laut ist und sich ständig wieder neu erfindet“, so beschrieb Volker Wild, grüner Ortsvorsteher des Wiesbadener Westends, die Wellritzstraße bei der Eröffnung der neuen Fußgängerzone. Wie verändert das einjährige Pilotprojekt die Straße?
von Shayan Julien Mirmoayedi
Seit dem 12. April ist die Wellritzstraße in dem Bereich zwischen Helenen- und Hellmundstraße Hoheitsgebiet von Fußgängern und Radfahrern. In einer einjährigen Testphase sollen Erfahrungen gesammelt werden, um dann entscheiden zu können, wie es mit der autofreien Zone weitergeht. Verkehrsdezernent Andreas Kowol sagte in seiner Eröffnungsrede, er sei sich sicher, dass man durch die Erfahrungen für andere Gebiete wissen werde „wie es verkehrlich geht, wie es mit der Akzeptanz aussieht und was man für jede einzelne Straße mit Blick auf die Aufenthaltsqualität entwickeln sollte“.
Neue Außenbereiche
Gastronomen und Kioskbetreiber dürfen in den Bereichen vor ihren Läden Tische und Stühle aufstellen und ihre Gäste dort bewirten. 13 Euro zahlen sie pro Quadratmeter Außenfläche und können den Bürgersteig und etwa einen Meter Fahrbahn nutzen. „Früher hatte man nicht die Möglichkeit draußen zu sitzen und zu trinken, mittlerweile hat man die Möglichkeit dazu und das ist auf jeden Fall ein Plus für uns gewesen“, meint Kioskbetreiber Söhrettin Canpolat. Auch viele neue Gesichter, die „das im Netz lesen oder davon hören sind neugierig, kommen her, wollen sich das mal angucken und die meisten fühlen sich hier wohl, weil du hier alles hast“, so Canpolat. Er erzählt von der Vielfalt der Läden in der Straße und freut sich über das Projekt. Auch Dönerladen-Betreiber Dekir Günaydin und sein Freund Ahmet Yildirim haben den Kundenzuwachs erwartet und freuen sich über die Menschen, die sich das neue Projekt anschauen möchten. Aber nicht nur Gewerbetreibende profitieren von der Fußgängerzone. Auch Passanten und Anwohner erfreuen sich an dem Urlaubsflair des neuen Bereichs im Westend. Ruhiger sei es durch den weggefallenen Autoverkehr und noch bunter als vorher, meint eine Passantin. „Auf jeden Fall positiv“, resümiert Matthias Stutz, Anwohner, und genießt die Sommersonne vor einem der vielen Läden in der Wellritzstraße.
Ort der Begegnung
Einen „Ort der Begegnung zwischen Jung und Alt“ soll die Fußgängerzone schaffen. Das wünscht sich das Kinder- und Jugendzentrum „Wellritzhof“. Für Herbert Cartus, Mitarbeiter des Wellritzhofs und Befürworter der neuen Fußgängerzone, heißt das, „dass man sich hier trifft, in den Cafés sitzt, zusammen auf der Straße miteinander redet – was Begegnung halt so ausmacht“. In der Anfangsphase haben viele Kinder täglich in der Fußgängerzone gespielt, was durch den Lärm für die Ladenbesitzer zum Problem wurde, da sich diese um ihre Gäste und ihre Aufenthaltsqualität sorgten. Auch der ein oder andere Fußball flog gegen eine Schaufensterscheibe, sodass der Wellritzhof, nachdem sich alle Parteien ausgetauscht hatten, das tägliche Spieleangebot auf der Fußgängerzone einstellte. Stattdessen wird es nun ein- bis zweimal im Monat Spielangebote vom Wellritzhof in dem Bereich geben. Cartus erklärt, dass der Wellritzhof nicht für die Kinder verantwortlich sei, sich aber für die Interessen von Kindern einsetzt, die genauso Akteure seien wie Geschäftsleute und erklärt, dass der Wellritzhof einen schönen Hof besitzt, auf dem die Kinder spielen können. Conni Dingens, Leiterin des Wellritzhofs, erzählt auch von vielen anderen Projekten wie den Kunstkoffern oder Angeboten in den nächsten Osterferien. Sie hätten auch mal eine Tischtennisplatte aufgestellt, woraufhin Kinder und Senioren, Anwohner und Besucher gemeinsam spielten.
Autofreie Zone – eigentlich
Vor der Einrichtung der Fußgängerzone überfüllten Autos die aufgewühlte Straße. Nun ist ein Abschnitt der deutschlandweit wohl bekanntesten Straße des Wiesbadener Westends autofrei – zumindest soll er es sein. Denn einige Autofahrer befahren trotz der eindeutigen Ausschilderung die Fußgängerzone. Das stört die Ladenbesitzer, aber auch die Anwohner, Gäste und Passanten. Die Leiterin des Wellritzhofs, Dingens berichtet von zwei ins Spiel versunkenen Kindern, die fast von einem Autofahrer angefahren wurden. Kioskbesitzer Canpolat erzählt von einem Kunden, der sich den Autofahrern demonstrativ entgegengestellt hat, indem er sich samt Tisch mitten auf die Straße gesetzt hat. Diese mutige Aktion ist Ausdruck von dem, was viele Menschen in dieser Straße nervt. Beim Blick in die Autos fällt auf: Die Fahrer haben teilweise einen ratlosen und teils einen ignoranten Gesichtsausdruck beim Einfahren in die Fußgängerzone. Kriminaloberkommissar Christoph Müller, Schutzpolizist im ersten Wiesbadener Polizeirevier, hat ein Auge auf die Fußgängerzone und erklärt den einfahrenden Autofahrern die Sachlage, wenn er gerade bei seiner Streife vor Ort ist. Als Lösungsmöglichkeiten stehen kleine Statuen, Würfel, die von Rettungskräften überfahren werden können und eine leicht physische und vor allem optische Barriere darstellen, sowie große Blumenkübel und Ähnliches im Gespräch. Bauliche Maßnahmen wie Poller sind aufgrund der Vorläufigkeit noch nicht möglich. Im Falle einer Ablehnung der Fußgängerzone in einem Jahr müssten diese wieder abgebaut werden, was doppelte Kosten mit sich brächte, wie auch Kriminaloberkommissar Müller erklärt. Er stellt fest: „Es ist eine Fußgängerzone, durch die aus meiner Sicht ab und zu mal ein Auto durchfährt, aber es ist keine Straße mehr, über die ab und zu mal ein Fußgänger rübergeht.“
Wie auch immer dieses Problem gelöst wird: Die Fußgänger haben sich die Straße zurückgeholt.