„Die Szene verspricht viel, aber wir sind einfach besser“
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Wir haben mit einem Sozialarbeiter des rheinland-pfälzischen Rechtsaussteigerprogramms (R)AUSwege gesprochen.
Interview: Melanie Döring
Wie läuft das RLP-Programm (R)AUSwege ab?
Unter 0800 4546000 bieten wir kostenfrei anonyme Beratung. Die Schwelle anzurufen ist aber hoch. Mythen geistern: Die sind vom Verfassungsschutz, die wollen Szenewissen abschöpfen! Wir betonen die Schweigepflicht. Ansonsten betreiben wir Netzwerkarbeit, machen uns bekannt. Die Erfahrung zeigt, dass Leute wegen Ängsten erst auf Motivation einer Fachkraft anrufen. Institutionen wie JVAs kennen uns und da sitzen Klienten, die straffällig wurden: Volksverhetzung, Körperverletzung. Wir kennen uns aus. Das schafft Vertrauen. Werden wir aktiv, bekommt jemand, der jahrelang keine Stelle findet, plötzlich ein Praktikum. Hilfe überzeugt, nicht politische Argumentation. Die Szene verspricht viel, aber wir sind einfach besser.
Haben Sie persönlichen Bezug zum Thema?
Ich habe als Schüler ab und zu einer jüdischen Dame geholfen. Ihre Familie wurde ausgelöscht. Man hat sie schikaniert, die Asche der Angehörigen geschickt. Als sich die Dame suizidiert hat, war für mich klar, dass ich was machen muss.
Sie halten Vorträge, Workshops. Inwiefern bringt das etwas?
Wir werden bekannt und danach melden sich Leute. Wir kriegen gute Feedbacks, auch mal Kritik, können aber argumentieren.
Wie weit kommt man mit Argumenten? Stößt man gegen eine Wand?
Wir diskutieren etwa über Musik in strafrechtlichen Grauzonen. Sonst bringen Diskussion und die besseren Quellen zu haben wenig. Besser: Das scheint Sie zu interessieren. Sie sind aufgeregt. Was regt Sie daran auf? Dann erzählen sie ihre Erlebenswelt, haben vielleicht einen Angriff von einer Gang mit Migrationshintergrund und das Gefühl von Wehrlosigkeit erfahren. Sie haben Angst und finden Schutz in einer Gruppe Andersdenkender. Man muss diese Angst thematisieren und Umgang damit lernen. Geht man in Biografien zurück, waren jetzige Gewalttäter Opfer von Gewalt, Vernachlässigung. Man muss an die Wurzeln gehen, nicht das Phänomen bearbeiten. Argumente gegen Rassismus und Parolen helfen nicht in der Aussteigerarbeit, das kennen die schon. Einstellungsänderungen laufen über emotionale Erfahrung. Wenn wir Leute in die Lage versetzen, sich gut zu fühlen, sich wahrzunehmen, kann Ausstieg gelingen.
Wie läuft Rekrutierung ab? Sie haben Musik erwähnt.
Die ist nur Medium. Sind Suche von Identifikation, Anschluss, Schutz Themen, ist man ansprechbar. Die Szene hat Sensoren für solche Menschen und kann da wirken, wo etwas fehlt.
Beim RÜCKWEGE-Programm geht es um frühe Distanzierung?
Viele Aussteiger sagen: Wenn mir jemand gesagt hätte, was auf mich zukommt, hätte mir das viel Leid erspart. Also konzipierten wir RÜCKWEGE. Aber wie spricht man jemanden an, der das toll findet? Wir arbeiten mit Multiplikatoren, denen, die am nächsten dran sind. Fußballtrainer, Feuerwehrmänner, Jugendarbeiter, die in Dialog treten, ein Fallanbahnungsgespräch. Wir coachen und wählen das Setting den Vorlieben entsprechend. Einer war gern im Wald – Spazieren, keine sterile Situation. Man redet über Spuren – Hasen, Rehe – was bedeutet das? Die brauchen Schutz. Schon sind sie bei eigenen Themen. Wir beginnen mit sozialer Beratung. Gute Gesprächsführung ist wichtig, oft wird von traumatischen Erlebnissen erzählt. Kompetenz und Erfahrung spürt man, eine gute Atmosphäre entsteht. Danach wird auf die jeweiligen Probleme zugeschnitten ein Helfernetzwerk aufgebaut.
Und wenn der Kontakt zum Programm Bewährungsauflage ist?
Ein Kollege hatte einen schwierigen Fall. Ein Skeptiker mit schlechten Erfahrungen. Er hat sich am Fluss verabredet. Mein Kollege kam mit dem Paddelboot. Die waren so beschäftigt, es war keine Zeit zum Reden. Das hat ihn fasziniert. Immer wenn er zum Sozialarbeiter musste, hätte der auf ihn eingeredet. Eine erlebnisorientierte Aktion aber verbindet.
Unterstützen Aussteiger später andere?
Das halten wir für gefährlich und bevorzugen stillen Ausstieg. Aussteigen wird ungern gesehen. Persönliche Probleme sind glaubhafte Rückzugsgründe, Kontakt zu uns wird dabei verheimlicht. Mal wollte jemand andere zum Ausstieg bewegen. Die Szene macht „Hausbesuch“ und er liegt im Koma. Deswegen fahren wir nach Gefährdungseinschätzung Sicherheitsprogramme, die je nach Szenebedeutung unterschiedlich aussehen.
Wie lang begleiten Sie Aussteiger?
Im Schnitt zweieinhalb, drei Jahre. Die Kandidaten werden älter, sind höherrangig. Einstellungen sind verfestigt, Stigmata schwer loszuwerden und wir betreuen länger.
Gibt es Rückfälle?
Seit 2001 sind in RLP 98 Leute ausgestiegen, 10% sind Abbrecher. Einer von sich aus, die anderen wegen Szeneannäherung durch uns. Das kündigen wir an. Wenn es wieder Kontakt gibt, müssen sie Bescheid geben. Heißt auch sich nicht mehr wie früher zu positionieren. Manche glauben unbemerkt im Internet zu sein. Wir merken, wenn sich jemand in einschlägigen Foren bewegt. Bei „Falschspiel“ gibt es keine Lockerungen mehr. Wir müssen ernstgenommen werden. Bei RÜCKWEGE können wir früher die Biographie korrigieren, seit 2010 gab es rund 50 Betreute und kaum Abbrüche.
Was raten Sie Eltern, wenn jemand in die Szene rutscht? Hat es immer mit dem Elternhaus zu tun?
Es sind nicht immer Loser am Rande der Gesellschaft aus schlechtem Elternhaus, auch hochintelligente Menschen, die in der Familie nicht gefunden haben, was sie brauchen. Ich würde als Betreuer keine Straftaten decken, da mache ich mich unglaubwürdig. Eltern wollen aber ihre Kinder nicht verraten. Wir empfehlen Elternberatung. Bei Minderjährigen gibt es Gespräche meist mit Müttern. Das zeigt das grundsätzliche Problem: Es fehlt jungen Männern in entscheidenden Sozialisationsphasen an väterlichen Identifikationsfiguren. Anstelle tritt der martialische Kameradschaftsführer.
Beobachten Sie eine Häufung an Kontaktanfragen aufgrund des Rechtsrucks?
Schwierig. Ich denke, Fachkräfte und Multiplikatoren sind sensibilisiert und melden öfter mögliche Fälle. Fachkräfte müssen Extremismus erkennen. Es ist nicht immer die Glatze. Es gibt den Nipster, den nationalen Hipster mit Tunnel im Ohr. Man sieht keine rechte Symbolik mehr, rassistische Äußerungen sind weniger offensichtlich verpackt. Wenn menschenfeindliche, antisemitische Botschaften zusammenkommen, die Musik gehört wird, es persönliche Kontakte gibt und sich vom Umfeld zurückgezogen wird, ist es nicht mehr nur jugendliche Provokation, hier ist Szene am Arbeiten.
Wenn man eine Erfolgsgeschichte hat: Wie ist das für Sie persönlich, als Berater?
Extrem motivierend. Man erlebt tiefe Dankbarkeit. Wenn ein Hooligan, früher 150 kg pure Gewalt, mit Tränen in den Augen sagt: Ihnen habe ich viel zu verdanken, ist das schon cool.
Stehen Sie noch mit Aussteigern in Kontakt?
Ab und zu melden sich welche und erzählen vom neuen Leben. Familie, Arbeit, Freunde, bedanken sich. Das berührt. Die Szene wird oft zu mächtig dargestellt: Wir bieten mehr.
Angenommen jemand, der gefährdet ist, liest diesen Artikel. Was soll hängenbleiben?
Neugier. Dass er sich mal per Mail oder Anruf informiert, ohne Namen zu nennen oder Gesicht zu zeigen. Wir können keine Wunder versprechen, aber sagen, dass wir erfolgreich sind: Etwas ändert sich im Leben der Menschen. Es kann länger dauern, aber ist ein guter Weg. Bei RÜCKWEGE gibt es natürlich Ups and Downs, gerade anfangs. Nur: Geht jemand den Weg komplett zurück, kommen wir nicht mit.
Und wenn sich jemand nicht traut, nicht zur nächsten Demo zu gehen?
Man kann anfangs mal am Rande der Demo stehen, damit die anderen ruhig sind. Wir hatten mal das Gegenteil: bei der nächsten Demo stand der Klient auf der Gegenseite (lacht). Lieber unauffällig sein.
Es ist also zu gefährlich, wenn jemand als Person, mit der sich Betroffene identifizieren könnten, beratend tätig werden möchte? Ich denke an Heidi Benneckenstein.
Kollegen sind nach eigener Suchtkarriere gute Sozialarbeiter geworden. Das kann aber auch schädlich für Psyche und Stabilität sein. Jemand psychisch Erkranktem oder Traumatisiertem würde ich abraten, in dem Feld zu arbeiten. Ich will es nicht verteufeln. Heidi Benneckenstein, früher hochorganisierte Szenenaktivistin, ist stark, viele haben diese Resilienz nicht. Wir machen anonyme Erfahrungsberichte. Wichtig ist Auseinandersetzung mit dem eigenen Narzissmus: Wenn jemand die innere Haltung ändern soll, kann er nicht ständig auf Bühnen stehen. Wenn jemand neu anfangen will, kann er nicht dauernd seine Vergangenheit thematisieren. Man muss zur Ruhe kommen. Manche geben uns Hinweise, etwa auf rechte Konzerte. Die wollen etwas wiedergutmachen.
Viel zum Nachdenken.
Das wollen wir! Damit wird´s was Gutes.
Website: https://lsjv.rlp.de/de/unsere-aufgaben/kinder-jugend-und-familie/projekte-gegen-extremismus/rauswege/