Die Formel der Freundschaft
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Seit fast 90 Jahren stehen Pünktchen und Anton für eine Freundschaft, die alle Gräben überwindet und durch keinen Reichtum der Welt aufzuwiegen wäre. In seinem diesjährigen Weihnachtsmärchen lässt das Staatstheater Mainz Erich Kästners Utopie von der Überwindung sozialer Grenzen in neuem Licht erstrahlen.
Von Sarah Marzouk
Hohe Häuser, außen grau und kalt, rotieren auf der Bühne im Kreis und um die eigene Achse. Das Berlin der 30er-Jahre, das Zuhause von Pünktchen und Anton ist ebenso imposant wie dynamisch. Alles ist im Fluss. Wo immer eine Tür geöffnet wird, weichen die urbanen Grau-Töne einem grellen und bunten Innenleben.
Erich Kästners berühmter Großstadtroman, in dessen Zentrum die Freundschaft zwischen der wohlhabenden, von den Eltern vernachlässigten Luise Pogge (Pünktchen) und dem in Armut lebenden Anton Gast steht, bekommt in der Inszenierung von Nikolaus Helbig einen neuen Anstrich.
Dem jungen Publikum wird dabei einiges zugemutet: Antons Mutter erholt sich nur langsam von den Folgen eines „Gewächses“ in ihrem Bauch, Pünktchens Kindermädchen hat nebst brutalem Freund (Teufel Robert) ein Alkoholproblem, was ihren Eltern nicht auffällt, da sie ihrem Kind bisweilen nicht mehr Aufmerksamkeit schenken als einer Zimmerpflanze. Weite Teile der Handlung spielen bei Nacht, wenn die Kinder heimlich Schnürsenkel und Streichhölzer auf der Straße verkaufen: Anton aus purer Existenznot und Pünktchen als Begleitung ihres entgleisten Kindermädchens.
Fliegende Rollenwechsel
Kästners Stoff ist wie bittere Medizin dargereicht mit sehr viel Zucker. Der Zucker, das ist die Freundschaft zwischen den Protagonisten, brillant dargestellt von Elena Berthold und Julian von Hansemann: Sie stehen kompromisslos füreinander ein – sei es im Angesicht des hinterlistigen Klepperbein, einer strengen Lehrerin oder des Teufels Robert – und haben verdammt viel Spaß dabei.
In einer Welt, in der Termindruck, Eskapismus und Krankheit den Alltag der übrigen Bezugspersonen bestimmen, werden Pünktchen und Anton durch ihre bedingungslose Freundschaft vorübergehend zur einzigen Konstante für den anderen. Dieser Aspekt wird untermalt durch den großartig umgesetzten fliegenden Rollenwechsel aller weiteren Darsteller: Klaus Köhler gibt sowohl den fürsorglichen, erfolgreichen, mitunter devoten Vorzeigebürger Direktor Pogge als auch den dominanten, kriminellen Robert, der das labile Fräulein Andacht nur ausnutzt. Andrea Quirbach überzeugt sowohl als tugendhafte, von Armut und Krankheit gebeutelte Supermutter Frau Gast als auch als verantwortungsloses, sprunghaftes Kindermädchen Fräulein Andacht. Leoni Schulz ist sowohl in der Rolle der mondänen Frau Pogge als auch des verwahrlosten Klepperbein zu sehen. Liese Lyon lässt sich als Lehrerin die Augen von Pünktchen für Antons Nöte öffnen und als Dicke Berta von Anton vor einem Einbrecher warnen. Denis Larisch lässt Kinderaugen strahlen, wenn er als Chauffeur Herr Pollack aus dem fahrenden Auto heraus keck die Handlung kommentiert und als Polizist auf Verbrecherjagd geht.
Fazit: „Pünktchen und Anton“ hat alles, was ein Weihnachtsmärchen braucht: Witzige Dialoge, mitreißende Musik, authentische Kostüme, ein atemberaubendes Bühnenbild, in dem sogar live gekocht wird, und ein Happy End, bei dem nicht alles gut, aber vieles besser wird. In einer Zeit der gesellschaftlichen Spaltung hat Kästner in seinen Werken ein Licht auf den Wert des Miteinanders geworfen. Dieses Licht leuchtet aktuell im Staatstheater.